27. Jahrgang | Nummer 19 | 9. September 2024

Religionsfreiheit und innerer Frieden in der Ukraine

von Dieter Segert

Die Ukraine ist ein Land mit vielen Kirchen, die meisten davon orthodox. Die Bevölkerung ist wie in vielen post-sowjetischen Gesellschaften nur zu einem geringen Teil religiös und aktiv in den Kirchen. Trotzdem wird das am 20. August in zweiter Lesung beschlossene Gesetz zum Verbot der einen, gemessen an der Zahl der Gemeinden und Priester, größten orthodoxen Kirche der Ukraine politische Auswirkungen haben. Es geht um die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), deren Name im Übrigen nicht den in unseren Medien häufig zitierten Zusatz „Moskauer Patriarchat“ aufweist – das ist eine journalistische Erfindung.

Das mit 265 von 408 Abgeordnetenstimmen beschlossene Gesetz ermöglicht das Verbot von Kirchen, die mit der „Kirche des Aggressors“, also Russlands, verbunden sind. 29 Abgeordnete stimmten dagegen, darunter vier aus der Regierungspartei „Diener des Volkes“. 28 Abgeordnete enthielten sich oder nahmen nicht an der Abstimmung teil. Präsident Selenskyj hatte bereits vor der Abstimmung erklärt, das Gesetz werde „die geistliche Unabhängigkeit der Ukraine stärken“. Am 24. August unterzeichnete er das Gesetz, so dass es im Amtsblatt veröffentlicht werden. 30 Tage später tritt es in Kraft.

Welche Wirkungen wird das angedrohte Verbot zeitigen? Die UOK kann nicht als Ganzes auf einen Schlag verboten werden. Jede einzelne der über 10.000 Gemeinden gilt als juristische Person, für die jeweils auf Antrag des „Staatlichen Dienstes für Ethnopolitik und Gewissensfreiheit“ ein Gericht prüfen muss, ob einer der im Gesetz genannten Verbotsgründe zutrifft. Das Gericht entscheidet danach, ob die Tätigkeit der Gemeinde verboten werden muss.

Wichtigster Verbotsgrund ist die behauptete Abhängigkeit der UOK von der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK). Tatsächlich war die UOK früher eng mit der ROK verbunden, sie erklärte sich aber im Mai 2022 für unabhängig. Weitere Schritte in die Unabhängigkeit folgten, doch gilt den Kritikern schon als problematisch, wenn traditionelle Kirchenlieder in einem Gottesdienst auf Russisch gesungen werden. Einzelne Priester oder Mitglieder der gehobenen Kirchenhierarchie, vor allem in den besetzten Gebieten, arbeiteten allerdings auch nach dem Mai 2022 mit russischen Behörden zusammen.

Laut Gesetz wird die Assoziation mit der ROK durch den genannten „Staatlichen Dienst“ geprüft, doch reicht schon die Erwähnung der betreffenden Kirche als assoziierte in Dokumenten der ROK aus, um diese Abhängigkeit festzustellen. Auf Äußerungen der ROK hat die UOK natürlich keinen Einfluss.

Die Berichte über die Verabschiedung des Gesetzes provozieren zwangsläufig Fragen zur Qualität der Demokratie in der Ukraine. Formell ist der Prozess ordnungsgemäß abgelaufen: Der Antrag, eingebracht von der Fraktion der regierenden Partei „Diener des Volkes“, wurde in zwei Lesungen diskutiert und schließlich mit Mehrheit beschlossen. Bei der Abstimmung waren von den im Jahr 2019 gewählten 450 Abgeordneten nur 309 oder – nach einer anderen offiziellen ukrainischen Quelle – 322 anwesend. Das lässt sich einerseits durch die Kriegssituation erklären: Im Februar 2022 begann der russische Angriffskrieg, im Mai 2022 wurden daraufhin 12 „pro-russische“ Parteien verboten, darunter zwei Parlamentsparteien. Eine war die bis dahin größte Oppositionspartei, die „Oppositionsplattform für das Leben“, die vor allem im Osten und Süden des Landes 43 Mandate errungen hatte. Ihr Vorsitzender, Wiktor Medwedtschuk, wurde unter Hausarrest gestellt und wegen Hochverrats angeklagt. Er lebt inzwischen in Russland. Die Abgeordneten der Partei jedoch behielten, sofern es keine strafrechtlichen Verfahren gegen sie gab, ihre Mandate. Einige traten vom Oppositions- in das Regierungslager über. Auch völlig neue Parteien bildeten sich. Weitere Abgeordnete wechselten die Fraktionen. Die turnusmäßig im Herbst 2023 fällige Neuwahl, durch die der Rückhalt der Parteien im Wahlvolk geprüft worden wäre, fand wegen des herrschenden Kriegsrechts nicht statt.

Die im Parlament vertretene neue Partei ähnlichen Namens wie die verbotene – die „Plattform für Leben und Frieden“ – stimmte bisher mit dem Regierungslager. Diesmal scherte sie aus guten Gründen aus: Von derzeit 19 Abgeordneten stimmten 17 gegen das Verbotsgesetz, nur einer war dafür, ein anderer blieb der Abstimmung fern. Auch die Regierungspartei leidet unter Abgeordnetenschwund: 254 Mandate hatte sie 2019, im März 2023 waren es noch 235. An der Abstimmung nahmen 199 ihrer Abgeordneten teil, nur 173 stimmten mit Ja. Der Beschluss erhielt die Mehrheit nur, weil 60 von 62 Abgeordneten der gegenwärtigen Opposition, vor allem der „Europäischen Solidarität“ (Petro Poroschenko), der Fraktion „Vaterland“ (Julia Timoschenko) und der Partei „Golos“ dem Gesetzesentwurf zustimmten.

Die Ablehnung des Gesetzes durch die Mehrheit der „Plattform für das Leben und den Frieden“ und durch neun von zehn Abgeordneten der Parteienkoalition „Für die Zukunft“, die ebenfalls im Osten der Ukraine verankert ist (vom Oligarchen Ihor Kolomojskyj nach der Wahl 2019 formiert), weist auf die gesellschaftlichen Konflikte hin, die zu erwarten sind.

Viele Kommunen werden nicht warten, bis das Gesetz durch Gerichte exekutiert werden wird. Erwartet wird, dass sie schon vorher die Mietverträge zur Nutzung von Gebäuden durch die UOK kündigen werden (Kirchengebäude in der Ukraine befinden sich häufig im Besitz des Staates oder der Kommunen). Das könnte vor allem im Westen der Ukraine geschehen, wo nationalistische politische Gruppen am aktivsten gegen die UOK Stellung beziehen.

Zudem dürfte der politische Druck auf Gemeinden und Kirchenobere der UOK verstärkt werden, sich ebenso wie die unter Präsident Poroschenko geschaffene Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) dem Ökumenischen Patriarchen von Istanbul unterzuordnen.

Das verabschiedete Gesetz enthält neben den behaupteten Beziehungen zur ROK weitere Verbotsgründe. Auch der Aufruf zu Handlungen, die in die Rechte und das Eigentum des Staates eingreifen, wird als Klagegrund angesehen. Wenn also Gemeindemitglieder oder Geistliche die gewaltsame Beschlagnahme eines UOK-Kirchengebäudes durch den Staat zu verhindern suchen, kann das ebenfalls bestraft werden. Anders gesagt: Diese Proteste können zum Anlass genommen werden, die entsprechende Gemeinde der UOK zu verbieten.

Das Gesetz wird zu einer Verschärfung der politischen und kulturellen Konflikte innerhalb der Gesellschaft führen, befürchtet der ukrainische Politologe Ruslan Bortnik. Die UOK werde nicht verschwinden, sondern in den Untergrund abgedrängt werden, dort aber weiterleben.

Ein demokratischer Staat ist nicht stark, wenn sein Parlament radikale Maßnahmen beschließt, mit denen die Exekutive Gegenstimmen im Land zum Schweigen bringen kann. Er ist stark, wenn sich die Mehrheit der Bürger durch dessen Politik vertreten sieht. Schon die Sprach- und Geschichtspolitik der Regierungen seit Präsident Viktor Juschtschenko haben einen Teil der Bevölkerung diskriminiert (siehe Blättchen 08/2023). Das angedrohte UOK-Verbot wird die Spaltung in der ukrainischen Gesellschaft, zwischen der politischen Klasse und den betroffenen Teilen der Bevölkerung vertiefen.

Nach dem Krieg muss das Land nicht nur materiell wiederaufgebaut werden, sondern auch die Wunden müssen geheilt werden, die eine nationalistische Politik geschlagen hat. Auch in der Ukraine wird sich zeigen, dass die im Krieg vor dem Feind bestehende politische Einheit nicht automatisch weiterbesteht. Das Verbot der UOK, wodurch einer größeren Bevölkerungsgruppe das Recht auf freie Religionsausübung abgesprochen wird, untergräbt diese politische Einheit. Ohne sie ist auch die Rückkehr der sich seit Kriegsbeginn im Ausland aufhaltenden über vier Millionen Bürger nicht gesichert.