26. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April

Bulgakow entsorgen?

von Dieter Segert

Im August 2022 wurde die Gedenktafel für Michail Bulgakow am Kiewer Gymnasium, das der bekannte Schriftsteller als Jugendlicher besucht hatte, entfernt. Bulgakow wurde 1891 in Kiew geboren. Ihm zu Ehren gibt es dort ein Museum. Daneben steht sein Denkmal. In einem Gesetzesantrag an das ukrainische Parlament, die Verchowna Rada, wurde im April 22 beantragt, dieses Denkmal zu entfernen. Auch über die Schließung des Museums wurde diskutiert. Die Bulgakow-Straße soll, wenn dem Ergebnis einer Abstimmung unter Bürgern der ukrainischen Hauptstadt gefolgt wird, in Gulak-Artjemowskij-Straße umbenannt werden, nach einem Komponisten, der die erste ukrainische Oper schuf.

Diese Nachrichten haben mich betroffen gemacht. Bulgakows „Meister und Margerita“ ist mir seit meinem Studium in Moskau ein wichtiger Begleiter: Mein Freund Valerij, den ich während meiner Aspirantur an der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) in den siebziger Jahren kennenlernte, hat mir diesen Roman nahegebracht. Er zitierte seitenweise aus dem Kopf die gerade im Verlag „Volk und Welt“ in der DDR erschienene, leicht gekürzte Ausgabe des Romans. Wir diskutierten ausführlich, natürlich auf Russisch, über das, was Voland, der Teufel, mit seinem Besuch im Moskau der frühen 30er Jahre bezweckte. Bulgakow konterkarierte mit seiner Satire die Behauptungen der sowjetischen Propaganda, dass nach der Revolution sich ein „neuer Mensch“, einer der dem Geld, dem Streben nach Konsum auf immer Ade sagt, herausgebildet hatte. Bulgakows wundervoll einprägsame Erzählungen über „Besdomny“, den ungebildeten, aber wissbegierigen jungen Dichter, oder jene weltgeschichtliche über Jeschua und Pontius Pilatus, haben mich seitdem begleitet. Sie bestärkten mich damals in meinem Zweifel an den lautstarken Behauptungen der Propaganda, es gäbe diesen, mir wichtigen, Sozialismus bereits. Bulgakow war alles nur kein sowjetischer Apologet. Er wurde von 1929 bis zu seinem frühen Tod 1940 in der Sowjetunion mit Publikationsverbot belegt. Seine Stücke wurden, wenn überhaupt eine Aufführung stattfand, nach kurzer Zeit wieder abgesetzt.Nach dem Willen der Herrschenden sollte er vergessen werden. Und nun soll Bulgakow in der Ukraine ebenfalls aus dem öffentlichen Raum verschwinden.

Doch ob er sowjetkritisch war oder nicht, darum geht es gar nicht in erster Linie. Warum nun soll Bulgakow erneut aus dem kulturellen Gedächtnis des Landes gelöscht werden? Er ist nicht der Einzige, der dazu verurteilt werden soll. Auch mehrere Büsten Puschkins sollen aus Kiew entfernt werden. Ebenso eine Gedenktafel für den russischen Reformer Sergej Witte soll verschwinden. Dazu kommt die schon länger andauernde Diskriminierung der russischen Sprache im Schulunterricht, welche von großen Teilen der Bevölkerung des Landes in den Familien und auf der Straße gesprochen wird. Ihre Nutzung ist in den Behörden und Gerichten seit Inkrafttreten eines Gesetzes Anfang 2021 verboten. Feiertage aus der sowjetischen Zeit werden durch ukrainische ersetzt. So gibt es einen Gesetzesantrag, den Internationalen Frauentag nicht am 8. März sondern schon am 25. Februar zu feiern, dem Geburtstag von Lessja Ukrajinka, einer Dichterin der ukrainischen Nationalbewegung.

Diese Verbote haben also ein „heiliges Anliegen“, die Verteidigung der ukrainischen nationalen Identität. Die Bindungen an die Sowjetunion, mehr noch, die an Russland, sollen bei den Menschen jenes Landes gänzlich durch die an eine homogen gedachte Ukraine ersetzt werden. Die Träger dieser Politik nennen ihr Ziel „De-Kolonisierung“. Bulgakow etwa wird vorgeworfen, in seinem Roman „Die weiße Garde“ den ukrainischen Nationalhelden Petljura, einen Führer der kurzlebigen ukrainischen Staaten zwischen 1918 und 1921, als Räuberhauptmann verunglimpft zu haben. Zudem habe er seine Werke auf Russisch geschrieben.

Dem nationalistischen Blick wird alles Russische zum Feind. Schon unter Präsident Juschtschenko, von 2005 bis 2010, wurde Russland zum historischen Feind der ukrainischen Nation auserkoren. Der wichtigste Ausdruck dessen war die Umdeutung der politisch erzeugten Hungersnot nach 1932 in eine gezielte Ermordung von Ukrainern. Die Stalinsche Politik der beschleunigten Industrialisierung und gewaltsamen Kollektivierung wurde als gezielte Ausrottung ethnischer Ukrainer interpretiert, als gewollten Genozid am ukrainischen Volk. Diese Umdeutung wurzelt im Weltbild der nationalistischen Bewegung der Westukraine, die sowohl gegen den polnischen Staat, dessen Polonisierungspolitik in Galizien und Wolhynien, als auch gegen den Bolschewismus gekämpft hatte. Von Juschtschenko wurden zwei Helden der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) zu „Helden der Ukraine“ erklärt.

Unter Präsident Poroschenko wurde diese Geschichtspolitik noch vertieft. Denkmäler und Namen, die an die sowjetische Zeit erinnerten, wurden beseitigt und durch ukrainische ersetzt, es kam zum Sturz der Lenindenkmäler („Leninopad“) und der Umbenennung von Dnepropetrowsk in Dnipro (nach dem Fluss, an dem sie liegt). Dnepropetrowsk war nach einem bolschewistischen Funktionär der Sowjetukraine, Grigori Petrowski, benannt worden. Poroschenko wollte mehr als eine Auslöschung der sowjetischen Periode aus dem kulturellen Gedächtnis. Er wollte das Land vom russischen kulturellen Erbe reinigen. Dafür hatte er ein großes Projekt, die Gründung einer eigenen Staatskirche. 2018 wurde sein Traum wahr, ein Teil der ukrainischen Orthodoxie wurde als Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) autokephal, also unabhängig. Allerdings waren nicht alle orthodoxen Gläubigen in dieser Kirche zusammengeschlossen.

Im November 2022 begann der Ukrainische Sicherheitsdienst SBU verstärkt Liegenschaften der größten Kirche der Ukraine, der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) zu durchsuchen. Einige ihrer Kirchenführer wurden festgenommen. Im Dezember wurde der Kirche die Nutzung des berühmten Höhlenklosters untersagt. Zuerst ging es nur um das obere Höhlenkloster (in dem sich die Hauptkirche der UOK befand). Das orthodoxe Weihnachtsfest wurde schon von der autokephalen OKU dort gefeiert. Im März 23 wurde der UOK mitgeteilt, dass ihr auch das Untere Höhlenkloster, in dem sich der Sitz ihres Kirchenführers sowie ein großes Kloster mit 800 Mönchen und ihre kirchliche Akademie befinden, entzogen wird. Im Parlament liegen zudem mehrere Gesetzesanträge, die sich auf das Verbot der größten orthodoxen Kirche des Landes richten. Man verdächtigt sie der Unterstützung Russlands, obwohl die UOK bereits nach Kriegsbeginn ihre Bindungen an die Russisch-Orthodoxe Kirche schrittweise gekappt hatte.

Die Ukraine ist ein Land, das durch die jahrhundertelange Integration in unterschiedlichen Imperien und Staaten der Nachbarschaft geprägt wurde. Sie ist ein multiethischer Staat mit einer Bevölkerung, die sich mehrheitlich als ethnisch-ukrainisch definiert, aber es gibt andere Identitäten auch. Eine größere Gruppe, regional im Osten und Süden konzentriert, versteht sich als russisch-ukrainisch. Die Jahrzehnte seit 1917 bzw. (was den Westen des Landes anbetrifft) seit 1945 haben diese ethnische Vielfalt durch gesellschaftliche Modernisierung und damit verbundene Migrationsbewegungen verstärkt. Ukrainer wanderten in andere Landesteile, Angehörige anderer sowjetischer Völkerschaften sind eingewandert und heirateten untereinander.

Mein Freund Valerij, mit tatarischen, usbekischen und deutschen familiären Wurzeln, hatte mit seiner Frau, die eine Ukrainerin mit polnischen Vorfahren ist, nach seinem Studium in Dnepropetrowsk gelebt. In den chaotischen 1990er Jahren, die für die Ukraine noch größere Alltagsprobleme mit sich brachte als für Russland, zogen er und seine Familie zu seiner Mutter, die in Ufa, in der Russischen Föderation, lebte.

Das literarische Erbe des in der Ukraine geborenen Bulgakow könnte für die Menschen in Russland und der Ukraine ein Medium einer kulturellen Verständigung nach dem Krieg sein. Wozu es sich aber keinesfalls nutzen lässt, ist die ethnische Homogenisierung der Ukraine.

 

Dieter Segert, pensionierter Professor der Universität Wien, Publikationen zum Staatssozialismus und seinem Nachwirken in Osteuropa sowie zu aktuellen Funktionsproblemen der Demokratie, lebt in Berlin.