27. Jahrgang | Nummer 7 | 25. März 2024

Napoleonische Seifenblasen

von Detlef Jena

Während der Papst in Rom reinen Herzens das sagt, was ihm als Stellvertreter Gottes auf Erden geboten ist, und zum Ende des Krieges in der Ukraine aufruft, um das Leid der Menschen zu mildern, denkt Frankreichs katholischer Präsident Emmanuel Macron laut darüber nach, westliche Bodentruppen auf den ukrainischen Kriegsschauplatz zu entsenden. Gewiss hat sich Präsident Macron zumindest flüchtig daran erinnert, dass Kaiser Napoleon 1812 nach Moskau marschiert ist. Weniger angenehm dürfte für Macron natürlich die Tatsache sein, dass der russische Zar im brennenden Moskau die Kapitulation verweigerte. Alexander I. hatte Napoleon geantwortet, er sei bereit, sich notfalls bis hinter den Ural zurückzuziehen – aber geschlagen werde er sich niemals geben.

Ob Herr Macron darüber gründlicher nachgedacht hat? Was 1812 betrifft, müssten ihm dabei sogar Merkwürdigkeiten mit aktuellem Aussagewert aufgefallen sein.

Obwohl Napoleon und Alexander I. sich 1803 nicht über die beiderseits angestrebte Teilung Europas geeinigt hatten und Russland 1805 bei Austerlitz eine Niederlage erlitt, waren sie seit dem Frieden von Tilsit 1807 Verbündete. Napoleon wollte sogar eine russische Prinzessin heiraten! Daraus erwuchs nichts, außer wachsendem gegenseitigen Groll. Ganz kritisch wurde es 1809 im Streit um den Besitz Polens.  Polens! Nicht der Ukraine. Als Österreich 1809 das von Napoleon dominierte Herzogtum Warschau angriff, unterstützte Russland Frankreich nur formal. Es wollte weder gegen Österreich noch gegen Preußen kämpfen, und vor allem wollte es sich das ganze Polen selbst einverleiben. Dazu kam ein zweiter Zankapfel: wirtschaftliche Sanktionen, die sich um die 1806 von Napoleon diktierte Kontinentalsperre gegen England rankten. Es war für den Zaren ein feindseliger Akt, dass Napoleon 1810 die Kontinentalsperre für den Handel französischer Schiffe mit England lockerte. Vom Zaren, der 1807 in Tilsit der Kontinentalsperre beigetreten war, verlangte er aber, dass selbst neutrale Schiffe, die russische Häfen anliefen, beschlagnahmt werden sollten, wenn sie englische Waren transportierten.

Das war nicht die einzige Provokation. Alexander I. war kein unschuldiges Lamm, er verfolgte eine Doppelstrategie: in der Öffentlichkeit diplomatisch, insgeheim aber aufrüstend. Doch die Nachricht vom Herbst 1810, dass Napoleon drei Divisionen an die russische Grenze verlegte und die polnischen Brigaden mit neuen Waffen versorgte, waren ebenso bedrohlich wie der direkte Angriff auf das Zarenhaus, der mit der Annexion des Herzogtums Oldenburg gegeben war: Georg von Oldenburg war der Ehemann Katharina Pawlownas, einer Schwester Alexanders. Der Zar beteiligte sich nicht länger an der Kontinentalsperre, die zu einer wirtschaftlichen Belastung geworden war. Seine Mutter hasste den korsischen Emporkömmling ohnehin. Wie konnte der es wagen, Russland den Welthandel zu verbieten! Außerdem fehlten die Steuereinnahmen im russischen Haushalt und damit für die Rüstung. Korrupte Schmuggler lachten sich obendrein ins Fäustchen.

Alexander reagierte und verbot die Einfuhr von Luxusgütern, die vor allem aus Frankreich kamen. Das erzürnte Napoleon ebenso wie das russische feinmaschige Zollsystem, das vor allem England begünstigte. Dabei spielte der Streitfall Polen abermals eine besondere Rolle. Russland hielt nach wie vor große Teile des ehemaligen Königreichs Polen besetzt. Aus polnischen Wäldern bezogen die Engländer Holz für ihren Schiffbau. Weil Russland aber unabhängig von der Gegnerschaft zu Napoleon im Krieg gegen Schweden 1809 Finnland und dessen riesige Waldgebiete besetzt hatte, avancierte der Zar zum wichtigsten Holzlieferanten für die englische Kriegsmarine.

Genug war genug! Ab 1811 begannen auf beiden Seiten des Njemen unverhüllte Kriegsvorbereitungen. Der Zar verlegte fünf Divisionen an die Grenze zu Polen und die Kanonenbauer in Tula schufteten Tag und Nacht im Akkord. Alexander I. durchdachte die Idee, Napoleon durch einen Präventivschlag zuvorzukommen. Doch einer Rheinbund-Armee Napoleons konnte er nur mit Hilfe Polens, Preußens und Österreichs entgegentreten. Wieder war Polen der neuralgische Punkt.

Der Zar schlug vor, ein Königreich Polen von seinen Gnaden auszurufen. Im Gegenzug sollten ihm die wichtigsten Politiker und Militärs des Herzogtums Warschau schriftlich garantieren, dass sie ihn gegen den Korsen unterstützen. Preußen und Österreich sollten die Flanken sichern.

Natürlich erfuhr Napoleon von diesen Plänen noch bevor sie überhaupt ausformuliert waren. Während beide Seiten einander Kriegslust vorwarfen und ihre Diplomaten vor Friedensliebe trieften, marschierten die Truppen unvermindert auf. Ja, in Paris druckte man bereits russische Banknoten. Als die Sache aufflog, waren keine russischen Spione am Werk, die es zu entlarven galt. Nein, Napoleon war sich durchaus der Risiken bewusst, die er mit einem Feldzug nach Moskau eingehen würde. Der Schöpfer des „Code Civil“ wusste bei seinem Vorgehen gegen das orthodox-autokratische Russische Reich um die Niederlage der Schweden 1709 nahe dem ukrainischen Poltawa. Er sah das russische Vordringen gegen Persien im Kaukasus und kannte den russisch-polnischen Dauerkonflikt.

Doch die Würfel waren gefallen und alle Bemühungen, noch in letzter Minute den Krieg zu vermeiden, gingen ins Leere. Am 21. April verließ Alexander I. Sankt Petersburg und reiste nach Wilna, um das Kommando über die Armee zu übernehmen.

Am 9. Mai verließ Napoleon Paris. Sein Emissär Louis de Narbonne überreichte Alexander am 18. Mai ein Schreiben Napoleons, in dem der Franzose seine Friedensbereitschaft bestätigte. Im Gegenzug verlangte er, dass sich Russland wieder an der Kontinentalsperre beteiligen sollte. Narbonne berichtete Alexander auch über die Stärke der Grande Armée, wobei er das auf ausdrücklichen Befehl Napoleons tat. Doch Alexander ließ sich nicht beeindrucken. Als Narbonne sechs Tage später ein Antwortschreiben an Napoleon übergab, erklärte der: „So sind also alle Vermittlungsvorschläge am Ende angelangt! Der Geist, der im russischen Lager herrscht, treibt uns in den Krieg. […] Es ist keine Zeit mit fruchtlosen Verhandlungen zu vergeuden.“

Mit dem Frieden von Bukarest beendete Russland am 28. Mai den parallel geführten Krieg gegen das Osmanischen Reich, wodurch weitere Truppen für einen Krieg gegen Napoleon frei wurden. Nach den Verträgen mit Schweden und dem Osmanischen Reich marschierten 90.000 russische Soldaten als Verstärkung in Richtung der russisch-polnischen Grenze.

Am 22. Juni verfasste Napoleon im heute litauischen Vilkaviškis (polnisch Wyłkowyszki) einen Tagesbefehl, in dem er den Zweiten Polnischen Krieg verkündete. Es ging ihm also um die Freiheit Polens – nicht der Ukraine: „Soldaten! Der zweite polnische Krieg hat begonnen! Der erste wurde in Friedland und Tilsit beendet. In Tilsit schwor Russland ewiges Bündnis mit Frankreich und Krieg gegen Großbritannien. Heute bricht es seine Schwüre. Es verweigert jede Erklärung seines befremdenden Verhaltens, bis die französischen Adler über den Rhein zurückgegangen und unsere Verbündeten seiner Willkür preisgegeben sind. Russland wird vom Verhängnis fortgerissen, sein Schicksal muss in Erfüllung gehen. Glaubt es uns denn entartet? Wären wir denn nicht mehr die Soldaten von Austerlitz? Es stellt uns zwischen Entehrung und Krieg. Die Wahl kann nicht zweifelhaft sein. Marschieren wir also. Gehen wir über den Njemen und tragen den Krieg auf russischen Boden. Der zweite polnische Krieg wird wie der erste ruhmvoll für die französischen Waffen sein; aber der Friede, den wir schließen werden, wird seine Garantie in sich tragen, und dem unheilvollen Einfluss, den Russland seit fünfzig Jahren auf die Angelegenheiten Europas ausgeübt hat, ein Ende bereiten.“

Dann marschierte die Große Armee des Rheinbundes im Namen der Menschenrechte Frankreichs in Russland ein. Das Ende ist bekannt. Alexander wurde zwei Jahre später als „rettender Engel Europas“ in Paris und London gefeiert. Zumindest bis zum Krimkrieg 1853.