27. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Februar 2024

Europäische Sicherheit – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

 

Das vorsätzliche Unverständnis für den anderen Staat […] führt

über die politische Sprachlosigkeit zur militärischen Aufrüstung

und von dort mit der Routine des Schlafwandlers zum Konflikt,

womöglich sogar zum Krieg.

 

Gabor Steingart

 

In so manchem Kommentar in hiesigen Mainstreammedien wird nach wie vor unverdrossen behauptet, Kiew könne den Krieg mit Russland „bestehen, wenn es technologisch überlegen wird. Das kann […] mit massiver westlicher Hilfe gelingen.“ (Süddeutsche Zeitung, 30.01.2024) Doch die Realität ist eine andere: Milliardenprogramme für die weitere militärische Unterstützung der Ukraine seitens der USA werden im dortigen Kongress seit Monaten von den Republikanern blockiert, und derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich daran bis zu den Präsidentschaftswahlen im November etwas ändern könnte. Diesen Ausfall kann auch die Bundesregierung nicht kompensieren, obwohl die deutsche Militärhilfe für Kiew in diesem Jahr auf acht Milliarden Euro verdoppelt werden soll. (Insgesamt bisher über 18 Milliarden Euro.) Zugleich jedoch sollen Marschflugkörper vom Typ Taurus, um etwa die Brücke von Kertsch soweit zu zerstören, dass der russische Nachschub auf die Krim und in die Südukraine nachhaltig beeinträchtigt würde, nach dem Willen des Ampelkanzlers weiterhin nicht geliefert werden.

Darüber hinaus hat Olaf Scholz den umliegenden Verbündeten zwar gerade erneut ins Stammbuch geschrieben: „Unsere Freunde in Europa müssen ihre Hilfe massiv ausweiten.“ Doch dass man ihm, und sei es wenigstens widerwillig, folgte – von engagiert gar nicht zu reden –, ist nicht zu beobachten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hingegen gebraucht gern mal starke Worte („Wir können Russland nicht gewinnen lassen.“), doch liegt Paris mit seiner bisherigen Militärhilfe an Kiew selbst nach eigenen Angaben (3,2 Milliarden Euro; Stand November 2023) noch hinter Norwegen und Dänemark. (In den permanenten Erhebungen des Institutes für Weltwirtschaft, Kiel, waren im Dezember 2023 für Frankreich übrigens nur 0,57 Milliarden Euro ausgewiesen.)

Vor diesem Hintergrund sowie angesichts der bisherigen militärischen Verluste der Ukraine, insbesondere in der gescheiterten Sommeroffensive 2023, und der unübersehbar zunehmenden Schwierigkeiten Kiews, immer wieder Manpower für die Streitkräfte zu mobilisieren – etwa 600.000 ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter entziehen sich derzeit einer Einberufung durch Aufenthalt im (vor allem) europäischen Ausland – dürfte es kaum übertrieben sein, die aktuellen Aussichten Kiews auf einen militärischen Sieg oder auch nur auf ein Kriegsende ohne substanzielle Einbußen als gegen Null tendierend zu bewerten.

Tatsächlich ist der Ukraine-Krieg längst zu einer Hängepartie geworden, in der Russland bei praktisch allen relevanten militärischen und wirtschaftlichen Faktoren am längeren Hebel sitzt. Zumal auch die westlichen Versuche, Moskau durch immer neue wirtschaftliche Sanktionen zu „ruinieren“ (O-Ton Baerbock) sich im Wesentlichen als Rohrkrepierer zum eigenen, vornehmlich deutschen Schaden erwiesen haben. Daher würde eine westliche Initiative für eine politische Beendigung und Regelung des Konfliktes, die auf einen dauerhaften Waffenstillstand und sich zügig daran anschließende Friedensverhandlungen setzte – und von der ja ansonsten, außer bei Protestierern gegen die offizielle Ukraine-Politik des kollektiven Westens, nirgendwo die Rede ist –, möglicherweise ins Leere laufen, weil Moskau für einen solchen Ausgang der Angelegenheit mittlerweile keine Erfordernisse mehr sieht. Aber – auch das wüsste man mit Sicherheit erst nach einem ernsthaften Versuch …

*

Exkurs: In Sachen deutscher Militärhilfe für Kiew wollte es die Ampelkoalition bekanntermaßen ursprünglich bei 5000 Stahlhelmen belassen; dann folgten aber doch dem ersten schweren Waffensystem weitere, bis man schließlich bei Leopard-II-Kampfpanzern angelangt war. Angesichts dieses Verlaufes ist es natürlich keineswegs ausgeschlossen, dass auch Taurus-Systeme noch ihren Weg in die Ukraine finden. Und in Kürze werden wohl von westeuropäischen Ländern gelieferte F-16-Kampfflugzeuge mit ukrainischen Piloten zum Einsatz kommen. Dass damit indes Faktoren mit Aussicht ins Spiel kämen, den Kriegsverlauf grundsätzlich zu verändern, also sogenannte Game Changer, behaupten inzwischen nicht einmal mehr eingefleischte Befürworter derartiger Lieferungen. Ob im Falle des Falles damit allerdings aus Moskauer Sicht nicht doch eine rote Linie zu viel überschritten wäre und sich die russische Antwort nicht mehr allein auf ukrainisches Territorium beschränkte, bliebe abzuwarten. Zumindest hatte Präsident Putin beim Waldaj-Forum im Oktober 2023 den von dem russischen Experten Sergej Karaganow in diesem Kontext anempfohlenen Einsatz taktischer Atomwaffen etwa gegen Polen (siehe Blättchen 15/2023) als nicht erforderlich bezeichnet …

*

Hierzulande klopft die Ampelkoalition derweil ihren Kurs auf eine langfristige Wiederaufrüstung der Bundeswehr und eine weitgehende Militarisierung des Landes fest. Verteidigungsminister Pistorius, nach Umfragen immerhin Deutschlands beliebtester Minister, pocht inzwischen darauf, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO für Militärausgaben nurmehr als Untergrenze zu definieren. Und sogleich echote der medial inzwischen allgegenwärtige Roderich Kiesewetter, MdB CDU, das Zwei-Prozent-Ziel sei „überholt“ und könne „nur noch eine Untergrenze sein“. Und Olaf Scholz, der offenbar bereit ist, die Richtlinienkompetenz in der Regierung noch sehr lange auf seinen Schultern zu tragen, hat schon vor einigen Wochen „versichert: Zwei-Prozent-Ziel wird auch in 30er Jahren eingehalten“ (FAZ, 10.11.2023).

Parallel dazu wird von den zuständigen Behörden an einem Operationsplan Deutschland zur gesamtstaatlichen Verteidigung gearbeitet, der bereits Ende März fertiggestellt sein soll. So war es im Umfeld eines Symposiums zu lesen, das Ende Januar mit Vertretern von Polizeibehörden, Bevölkerungsschützern, dem THW, Wissenschaftlern, der Energie- und Logistikbranche sowie Alliierten in Berlin stattgefunden hat.

Dabei geht es zum Beispiel um den Schutz sogenannter kritischer Infrastrukturen gegen Sabotage und andere militärische Schadeinwirkungen. Das betrifft unter anderem die nach Angaben im Internet weit über 1000 Umspannstationen, die Dreh- und Angelpunkte im landesweiten Stromversorgungssystem. Die stehen in aller Regel auf der grünen Wiese, mit nichts als einem Zaun drumherum und gut lokalisierbar. Ihr Ausfall legte im angeschlossenen Territorium schlagartig alles lahm, was auf Elektroenergie angewiesen ist und über kein Notstromaggregat verfügt. Eine Aufzählung im Einzelnen und eine Darstellung der Folgen, die binnen weniger Tage bis zum zivilgesellschaftlichen Kollaps führen könnten, wären an dieser Stelle Rahmen sprengend. Doch ist im Bundestag dazu bereits seit 2011 eine sehr informative Studie (Bundestagsdrucksache 17/5672) abrufbar. Was nun einen flächendeckenden sicheren Schutz dieser neuralgischen Infrastrukturelemente anbetrifft, so war dieser bereits Ende der 1980er Jahre Gegenstand von Untersuchungen von Wissenschaftlern aus den damaligen beiden deutschen Staaten zur Kriegsuntauglichkeit moderner Industriegesellschaften, an denen der Autor beteiligt war. Das Ergebnis damals: Ein solcher Schutz ist praktisch nicht leistbar.

Begleitet wird der gegenwärtige Aufrüstungs- und Militarisierungshype von einem fast schon stakkatoartigen medialen Trommelfeuer zur zielführenden Konditionierung der Öffentlichkeit:

  • „[…] über die Zukunft Europas wird in der Auseinandersetzung mit Moskau entschieden.“ (Matthias Krupa, ZEIT ONLINE, 30.01.2024)
  • „Wir sind Kriegsziel aus Putins Sicht.“ (Manfred Weber, CSU, Partei- und Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, bei „maybrit illner“, 01.02.2024)
  • Selbst ein Medium wie die jahrzehntelang vor allem friedensbewegten Blätter für deutsche und internationale Politik ist in sicherheitspolitischen Beiträgen vom Mainstream kaum mehr zu unterscheiden: „Glaubhafte Abschreckung bleibt […] für die EU auf absehbare Zeit eine bittere Notwendigkeit […].“ (Steffen Vogel, Blätter, Februar 2024)

In der Auseinandersetzung mit Moskau kann die Zukunft Europas schlimmstenfalls unwiederbringlich verspielt werden. Um sie demgegenüber zu entscheiden im Sinne von sichern, gewährleisten, müsste das Kernproblem der europäischen Sicherheit dauerhaft gelöst werden, das darin liegt, die Gefahr eines militärischen Zusammenstoßes mit Russland, der zum Atomkrieg eskalieren könnte, zu beseitigen. Das ist mit einem Modus Vivendi, der sich über Abschreckung, vulgo Feindschaft, definiert, prinzipiell ausgeschlossen. Ein solcher Modus Vivendi konserviert das Atomkriegsrisiko, statt es aus der Welt zu schaffen.

*

Den Blick über den Tellerrand der aktuellen Konfrontation mit Russland hinaus auf mögliche Perspektiven der Beziehungen zu Moskau zu richten, ist in den politischen Eliten des Westens nicht nur nicht en vogue, sondern nachgerade die extreme Ausnahme. Präsident Macron Aussage von Ende 2022, man werde nach dem Krieg eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa diskutieren müssen und sehen, „wie man Russland Garantien gibt“, ist jedenfalls bisher eine Eintagsfliege geblieben.

Es gehört allerdings kaum seherische Gabe dazu anzunehmen, dass der Westen und Moskau bei der Gestaltung ihrer wechselseitigen Beziehungen nach dem Krieg ganz von vorn beginnen werden müssen. Dabei könnte es sich als sinnvoll erweisen, ein Konzept zu revitalisieren, das seine praktische Sinnhaftigkeit bereits im ersten Kalten Krieg unter Beweis gestellt hat – (militärische) Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen (VSBM) als Einstieg in neue Ansätze zur Kriegsverhütung. In einer frühen, 1983 erschienenen Arbeit zu diesem Thema hatte der Autor VSBM als vertraglich vereinbarte Maßnahmen definiert, die „glaubhaft deutlich […] machen, daß vorhandene Militärpotenziale tatsächlich nur zur Verteidigung unterhalten werden und tatsächlich nicht politisch oder gar militärisch gegen die andere Seite instrumentalisiert werden sollen“. Zuletzt sind derartige Maßnahmen im Jahre 2011 auf OSZE-Ebene vereinbart worden (Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen).

Falls Präsident Macron sich also seiner Äußerung von 2022 erinnerte, könnte er – quasi zur inhaltlichen Vorbereitung der Nachkriegszeit – zunächst einmal ein internationales Expertengremium einberufen, etwa nach dem Vorbild der Palme-Kommission, die sich zwischen 1980 und 1982 der politisch-militärischen Umsetzung des Grundsatzes der gleichen und gemeinsamen Sicherheit zwischen Ost und West gewidmet hatte. Eine solche „Macron“-Kommission könnte mit einer doppelten Aufgabenstellung betraut werden:

  • Erarbeitung eines Portfolios militärischer VSBM zur Stabilisierung der Beziehungen zwischen der NATO und Russland, insbesondere zur Verringerung des Risikos (auch ungewollter) militärischer Zusammenstöße.
  • Skizzierung eines Rahmenkonzeptes für eine neue Friedens- und Sicherheitsarchitektur im Großraum zwischen Vancouver und Wladiwostok auf der Grundlage des Prinzips der gleichen und gemeinsamen Sicherheit. (Zurückgegriffen werden könnte dafür auf die Charta von Paris, 1990, das OSZE-Dokument von Istanbul, 1999, sowie die OSZE-Gedenkerklärung von Astana, 2010.)

Soweit – eine Idee.

Leider gehört es nicht zu den permanenten Stärken des französischen Präsidenten, Worten Taten folgen zu lassen …