27. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2024

Wir lagen vor Helgoland

von Detlef Jena

Die weiland Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte Bundesdeutschlands damals schimmelnder Wehr ein neues Traditionsbild anbefohlen und den Soldaten den Grundsatz in den Waffenrock gestickt: Du und das friedfertige Grundgesetz, eine historische Harmonie! Der Soldat sollte sich vor allem wohl fühlen, daheim in der Kaserne, besonders, wenn er vom transatlantischen Ringen um die deutsche Freiheit am afghanischen Hindukusch lebend und unversehrt zurückkehrte.

Inzwischen wird wieder zum globalen Totentanz aufgespielt. Das Traditionsbild scheint ersatzlos gestrichen zu sein, die Frontlinie der deutschen Freiheitsverteidigung ist an den Dnepr zurückverlegt worden. Frau von der Leyen reist jetzt von Brüssel aus im Nachtzug flott nach Kiew. Sie hat viele Euro im Gepäck, um der von Moskau ausgehenden traditionellen zarischen „Sammlung der russischen Erde“ bewaffnete und kreditfähige europäische Grenzen zu setzen. Der deutsche Kanzler hat dazu eine ganze Zeitenwende nach dem kaiserlichen Motto postuliert: „Germans to the front!“ Der neue Verteidigungsminister inspiziert in den litauischen Wäldern schon Plätze für ein künftiges Hauptquartier. Sogar der grüne Anton Hofreiter soll bereits eine Leichte Kavalleriebrigade formieren: Der Russe ist wieder vor den Toren!

In Dresden schnitzt Sachsens Ministerpräsident laut Ansage des grünen Politikers Reinhard Bütikofer an einem Trojanischen Pferd, aus dem demnächst Putin aussteigen werde. Deutschland soll in fünf bis acht Jahren kriegsbereit sein – falls der Russe nicht schon früher angreift – verkündet Bild. Kameraden, da braucht es keine kuscheligen Wohlfühlregimenter mit einem friedfreudigen Traditionsbild mehr. Und die Divisionen selbsternannter Experten, die Tag für Tag orakeln, wie sich Krieg anfühlt und dass der Russe nun bald vor seinem selbst inszenierten Debakel steht, reichen nicht mehr, das deutsche Volk für kommende Kriege auf eigenem Boden zu rüsten. Jedem Menschen, der den Zweiten Weltkrieg noch aus persönlichem Erleben kennt, steigt das Grauen ins Gesicht.

Doch keine Bange! Die verkaufsoffene Demokratie hält für kritische Situationen Politikwissenschaftler und Psychologen bereit! Sie wissen, die „Lage“ ist ein psychologisches Problem, das primär in der Schule gelöst wird. Den Kindern muss die Lust am Krieg zuerst vermittelt werden, sie sind ja die Zukunft. Sollen die heutigen Kinder etwa auch nach dem Lied streben: „Auferstanden aus Ruinen …“ Der Vorschlag zeugt von einem besonderen Grad geistigen Verfalls. Die deutschen Schulen füllen sich dank einer weisen Bundespolitik gerade in berauschendem Tempo mit Migrantenkindern, die vornehmlich aus Ländern kommen, die von Not, Krieg und Elend gekennzeichnet sind, denen Hass und Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit in die Wiege gelegt worden sind. Für heutige Marktstrategen ist das kein Problem. Sie planen schon mit der Aufnahme von Migranten in die Bundeswehr. Frankreich hat ja auch eine Fremdenlegion.

Was soll da der Pessimismus? Die deutsche Geschichte kennt viele Beispiele, in denen auch Gelehrte und Dichter im Sinne des zuvor nicht denkbaren gauckschen nationalen Freiheitsbegriffs bereit gewesen sind, der bewaffneten Nation Hirn und Arm zu leihen.

Wer etwa an Jacob Grimm denkt, dem kommen die gemeinsam mit dem Bruder Wilhelm gesammelten „Kinder- und Hausmärchen“ in den Sinn. Oder das „Deutsche Wörterbuch“. Auf jeden Fall weiß man: Jacob Grimm zählt zu den Begründern der germanistischen Sprachwissenschaft. Weniger bekannt ist, dass sich auch Jacob Grimm den Spott Heinrich Heines zuzog, der das vor 1848 in Deutschland grassierende Flottenfieber mit den Worten karikierte: „Ja, obgleich wir Deutschen noch keine Flotte besaßen, so hatten wir doch schon viele begeisterte Matrosen.“

Der streitbare Jacob war gewillt, die Flagge eines wehrhaften deutschen Nationalstaats auf den Weltmeeren wehen zu lassen. Er rief auf den beiden berühmten Germanistenversammlungen 1846 in Frankfurt am Main und 1847 in Lübeck lautstark alle künftigen Teerjacken an Deck.

Diese Germanistentage vereinten Historiker, Juristen und Sprach- und Literaturwissenschaftler, die sich mit deutscher Geschichte, deutschem Recht und deutscher Sprache befassten Bevor man 1846 in Frankfurt am Main (bildlich gesprochen) so richtig in die Wanten kletterte, gedachte man selbstverständlich erst einmal des 300. Todestages Martin Luthers! Das war im Sinne wehrhafter Traditionen keineswegs abwegig. Wie man sich generell nicht vorstellen darf, dass die deutschen Gelehrten angesichts der damals aktuellen Frage von der Unteilbarkeit Schleswig-Holsteins und im nationalen Hochschwange so praktische Dinge wie die Kiellegung von Kampfschiffen debattierten. Tradition verlangte höhere Werte.

Jacob Grimm referierte im Frankfurter Römer „Über den Wert der ungenauen Wissenschaften“ und sein Bruder Wilhelm „Über das deutsche Wörterbuch“. Hatte Heine vielleicht doch recht, wenn er schrieb, die schlafmützigen Deutschen meditierten doch lieber in heimischen Betten, als mit waffenstarrenden Fregatten die Weltmeere zu kreuzen?

Ja und nein. Auf dem Germanistentag im September 1847 in Lübeck stand Jacob auf der Brücke und navigierte in die politische Zukunft: Die frühneuzeitliche europäische Hanse verkörperte ihm das nationale Element der deutschen Geschichte! Damit das auch alle anwesenden Gymnasiallehrer begriffen, stach man unter Hörnerklang und Salutschüssen von Travemünde aus in See, um sich anschließend im Lübecker Ratskeller bei einem festlichen Bankett wieder von der schwankenden Bootsfahrt zu erholen – seitdem spricht man in Lübeck vom „Germanistenkeller“.

Auf See und im Ratskeller wurde den Germanisten besonders durch Jacob Grimm bewusst gemacht, es komme nicht nur darauf an, die Hanse als Vorbild der nationalen Idee zu verstehen. Dieses Bild besitze nur einen Wert, wenn es mit der Wiederherstellung alter deutscher Seeherrlichkeit einher gehe. Deutschlands Zukunft liege in der Flotte: „Es muss noch einmal eine stärkere deutsche Hanse, als die war auf dem Meere schaaren“. Also einer Art deutscher Force de frappe.

Mit dem Ruf nach der Flotte und der Forderung nach einem allgemeinen Bürgerrecht nahm der Germanistentag von Lübeck eine durchaus von politischer Aktualität geprägte Position ein, die der Historiker Heinrich von Treitschke als einen „geistigen Landtag des deutschen Volkes“ betrachtete.

Der Ruf aus Lübeck wurde gehört und fand angesichts des Konflikts um den Besitz Schleswig-Holsteins in die Revolution von 1848/49 wie in das Frankfurter Paulskirchenparlament Eingang. Jacob Grimm erhielt in der Paulskirche einen Ehrenplatz. Die Abgeordneten bewilligten 6 Millionen Taler für den Aufbau einer deutschen Marine Sie sollte das „erste große deutsche Nationalwerk“ werden. Es wäre durchaus denkbar, dass Jacob Grimm als Namen für die künftigen Flaggschiffe etwa an Rotkäppchen oder noch besser an die sieben Raben dachte.

Allein, als im August 1848 Dänemark und Preußen den Konflikt um Schleswig-Holstein vorerst beendeten und kein akuter Anlass mehr für schnelle maritime Rüstungen bestand, tadelte Jacob Grimm, Preußen hätte sich einer „undeutschen Handlung“ schuldig gemacht. Schmollend reiste er aus Frankfurt ab. Da sah man sie wieder, die intellektuellen Bedenkenträger, die vor der eigenen Courage kapitulieren. Zum Glück war auf Preußen Verlass.

Die „Reichsflotte“ kam dennoch aufs Wasser. Mit einigen wenigen Schiffen, einem kleinen Seegefecht bei Helgoland und unter dem Kommando des Konteradmirals Karl Rudolf Bromme dümpelte sie drei Jahre länger als die Frankfurter Nationalversammlung in den Küstengewässern dahin. Dann war der Traum von der nationalen Idee einer stolzen Armada ausgeträumt und das war kein Märchen der Gebrüder Grimm. Das sollte jedes Traditionsbild berücksichtigen: Die Deutschen haben kühne Ideen und eine feste Hand beim Inszenieren von Konflikten und Kriegen, am Ende zählten sie indes allzu oft zu den Verlierern. Aber die Hanse als weltweit operierende europäische Wirtschaftsmacht – das ist doch mal ein vorzügliches und wehrhaftes Traditionsbild. Es sei denn, die Vernunft gebietet eine Rückkehr zur Konvention von Tauroggen im Dezember 1812, als Preußen sich von der Grande Armee Napoleons löste und mit Russland einen Waffenstillstand schloss.