27. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2024

Am Rande der Staatskrise

von Jan Opal, Gniezno

Stürmisch schlagen in Warschau die Wellen von Regierung und Opposition gegeneinander. Mit heftigem Scharmützel ging das alte Jahr zu Ende, jetzt droht offenes Schlachtgetümmel. Schien alles gegen Ende des alten Jahres zunächst auf die große Auseinandersetzung im Streit um die öffentlich-rechtlichen Medien hinauszulaufen, spitzt sich die Situation nun ganz anders zu. Die beiden verfeindeten Seiten rufen gleichermaßen den Rechtsstaat an – jede auf ihre Weise, der anderen vorwerfend, sie hätte den gekapert. Fest an der Seite der nationalkonservativen Opposition steht Staatspräsident Andrzej Duda. Das Regierungslager hat den frischen Wahlsieg hinter, die Stimmung also für sich. Auch sieht man sich in der Pflicht, gründlich und schnell mit all den Ungereimtheiten beim nationalen Umbau des Justizwesens während der Kaczyński-Zeit aufzuräumen.

Rückblende: Duda hatte ganz am Anfang seiner Amtszeit im November 2015 vom Begnadigungsrecht Gebrauch gemacht, ungewöhnlich genug der zeitlichen Eile wegen. Es ging um vier ehemalige staatliche Korruptionsbekämpfer, die wegen Überschreitung ihrer Kompetenzen und wegen Urkundenfälschung strafrechtlich verfolgt wurden. Die gezielte Provokation der Korruptionsbekämpfer hatte sich im Sommer 2007 gegen Andrzej Lepper gerichtet, der als „Samoobrona“-Chef (Selbstverteidigung) Landwirtschaftsminister und Stellvertretender Ministerpräsident in der von Jarosław Kaczyński geführten Koalitionsregierung war. Lepper sollte bei fingierten Grundstücksspekulationen in ein schiefes Licht gestellt werden, um ihn loszuwerden. Die Sache kam schnell raus, die Regierungskoalition zerfiel, die vorzeitigen Neuwahlen gingen für die Kaczyński-Partei verloren, die erst im Herbst 2015 zurück an die Regierungshebel kam. Die Hauptangeklagten der Korruptionsbekämpfer wurden im Frühjahr 2015 in erster Instanz mit dem langjährigen Verbot, öffentliche Ämter zu bekleiden, bestraft und gingen in Berufung.

Duda begnadigte nun, um das gesamte Verfahren einzufrieren. Hauptangeklagter war Mariusz Kamiński, einst der Chef der Korruptionsbekämpfer, jetzt immer einer der engsten Vertrauten Kaczyńskis. Er wurde nach dem Wahlsieg der Kaczyński-Partei in der neuen Regierung gebraucht – als Geheidienstkoordinator. Im August 2019 stieg er gar zum Innenminister auf, blieb auf dem Posten bis November 2023.

Dudas Begnadigung stoppte ein laufendes Verfahren. So urteilten später im Mai 2017 auch die Richter am Obersten Gericht, die den Begnadigungsakt für ungültig erklärten: Der Präsident könne begnadigen, also einem Verurteilten den Vollzug der Strafe erlassen, nicht aber jemanden für unschuldig erklären. Im Juli 2018 kippte das inzwischen von einer Kaczyński-Getreuen geführte Verfassungstribunal die Entscheidung des Obersten Gerichts, dieses habe das Begnadigungsrecht des Präsidenten viel zu eng ausgelegt. Im Sommer 2023 entschied nun wieder ein Regionalgericht in Warschau – dem Urteil des Obersten Gerichts folgend –, dass das Verfahren fortgesetzt werden müsse. Hauptbetroffener war kein Geringerer als der amtierende Innenminister; im Kaczyński-Lager war schnell von böser Rache der „Richter-Kaste“ die Rede – wegen der ungeliebten Justizreform. Das Amtsgericht Warschau verkündete kurz vor Weihnachten, also bereits nach erfolgtem Regierungswechsel, das Urteil von zwei Jahren Gefängnis für den ehemaligen Innenminister Kamiński und dessen Stellvertreter Maciej Wąsik.

Inzwischen waren Kamiński und Wąsik als gewählte Abgeordnete in den neuen Sejm eingezogen. Zunächst schützte sie die Immunität, die dann noch vor Jahresende aufgehoben wurde. Der Konflikt spitzte sich rasch zu, denn Duda beharrt auf die Gültigkeit seiner Begnadigung vom November 2015. Nachdem Haftbefehl gegen Kamiński und Wąsik ergangen war, lud Duda die beiden am 9. Januar 2024 zu einem protokollarischen Termin in den Präsidentenplast ein; vor den Ausgängen wartete die Polizei. Gegend Abend verließ Duda das Amtsgebäude, um einen Gesprächstermin wahrzunehmen. Die Polizisten vollzogen nun, wozu sie gekommen, und überführten die beiden Verurteilten aus dem Präsidentenpalast ins Gefängnis.

Jetzt schlug die Stunde des heftigen Protestes, Kaczyński sah sich herausgefordert und fühlte sich in seinem Element: Kamiński und Wąsik seien die ersten politischen Gefangenen im Lande seit 1989! Kein gutes Haar wird am „Tusk-Regime“ gelassen. Noch in der Nacht nach erfolgter Verhaftung zieht eine Mahnwache vor dem Gefängnis auf, vorneweg die nationalkonservativen Sejm-Abgeordneten. Von Journalisten befragt, ob er befürchte, demnächst selbst hier zu landen, entgegnet Kaczyński: „Ich habe keine Angst, auch wenn das nicht mehr auszuschließen ist bei diesen Leuten, die jetzt an der Macht sind.“

Renommierte Verfassungsrechtler bringen Duda ins Spiel, der die zugespitzte Situation schnell entschärfen könnte: die erneute Begnadigung genüge. Duda zögert zunächst, denn er will nicht zugeben, sich 2015 geirrt zu haben, überschlägt die politischen Konsequenzen des Schrittes. Dass das Kaczyński-Lager bis zum Äußersten zu gehen bereit wäre, scheint nach den ersten spontanen Reaktionen kurz nach der Festnahme festzustehen. Und das Regierungslager wird nicht nachgeben, hat es doch die erste nennenswerte Bresche in die Reihen der Gegenseite geschlagen. Den Ausweg kann nur noch der Präsident weisen: Duda springt über seinen Schatten und erklärt am 11. Januar 2024, dass er sein verfassungsmäßiges Recht in Anspruch nehme und beim Generalstaatsanwalt Adam Bodnar die Begnadigung für Kamiński und Wąsik beantragt habe. Denen wird nun die Strafverbüßung erlassen, ihre politische Laufbahn ist beendet.