27. Jahrgang | Nummer 1 | 1. Januar 2024

Ein neuer Blick auf Hannah Arendt

von Mathias Iven

Mehr als vierzig Jahre liegt das Erscheinen der Arendt-Biographie von Elisabeth Young-Bruehl zurück. Bis heute gilt sie als das Standardwerk. Als Schülerin von Hannah Arendt hatte sie nach deren Tod als erste Zugriff auf den Nachlass und die Korrespondenz, sie befragte Freunde und Bekannte und lieferte so ein nahezu vollständiges Bild dieser außergewöhnlichen Denkerin. Dass einige Facetten ausgespart blieben oder nicht in aller Ausführlichkeit behandelt wurden, schmälert den Wert von Young-Bruehls Arbeit keineswegs. Aber natürlich sind es gerade diese Leerstellen, die Biographen herausfordern. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass schlussendlich doch noch das eine oder andere Dokument auftaucht, das bisher nicht zugänglich war, von dem man einfach nichts wusste oder das als nicht relevant angesehen wurde.

So geschehen bei den Recherchen des an der Münchner LMU lehrenden Philosophen Thomas Meyer. Um seinem Anspruch gerecht zu werden, „Hannah Arendts Leben und Werk nahezu vollständig in ihrer Zeit darzustellen“, machte sich Meyer, seit 2020 Herausgeber einer im Piper Verlag erscheinenden Arendt-Studienausgabe, auf den Weg in die Archive. Was er dort zutage förderte, wirft vor allem auf drei Lebensabschnitte ein neues Licht.

Da ist zum einen die mit Königsberg verbundene Geschichte von Arendts weitverzweigter Familie, die teilweise neu geschrieben werden muss. Zum anderen sind es die Jahre im Pariser Exil zwischen 1933 und 1940, über die sich Arendt nur selten öffentlich geäußert hat. Meyer konnte für diesen Zeitraum zahlreiche Dokumente ausfindig machen, die ihren Beitrag zur Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher im Rahmen ihrer Tätigkeit für die 1933 in Berlin gegründete „Jugendaliyah“ belegen. Und schließlich geht es um die daran anschließende Zeit in den USA bis zur Publikation von Arendts erstem Hauptwerk Origins of Totalitarianism im Jahre 1951. Setzte sie doch auch in den Vereinigten Staaten ihr Engagement für Juden im Rahmen der Jewish Cultural Reconstruction fort. Meyer, der sich mit seinem Buch bewusst auf das konzentriert, „was in der bisherigen, kaum mehr zu überblickenden Literatur zu Arendts Leben und Werk gar nicht oder allenfalls am Rande behandelt wurde“, betont: „Diesen Jahren gilt die Aufmerksamkeit dieser Biografie, denn sie sprach nicht über ihre Erfahrungen, ließ sie nicht Teil ihres Werkes werden – und doch waren diese zwei Jahrzehnte prägend für ihr Denken, das sich aus dem Handeln ergab und das wiederum von ihr reflektiert wurde.“

Zur Unterstützung ihrer Arbeit und zur Verbreitung ihrer Ideen bedurfte es der Medien. Meyer zeigt in diesem Zusammenhang, dass Arendt „nicht nur Medienintellektuelle, sondern auch ein verwertungsbewusster Medienprofi“ war. Schon für ihren ersten Radioauftritt 1946, als sie für WNYC – den damals wichtigsten Kultur- und Politikradiosender der USA – über die „Hitler-Legende“ diskutierte, für die zahlreichen Sendungen, die der RIAS Berlin und der Bayerische Rundfunk mit ihr produzierten, bis hin zu dem legendären Fernsehinterview mit Günter Gaus im Herbst 1964 (das mehr als eine Million Menschen seit 2013 online abgerufen haben) galt: „Arendt wusste, dass der Dreiklang von gedrucktem Text, Radio und Fernsehen die Nachhaltigkeit der Botschaft sicherte, auch deshalb nutzte sie ihn und zugleich die Gelegenheit, ihre Überlegungen zu variieren. Die Medien gaben ihr die Möglichkeit, verschiedene Perspektiven einzunehmen, die Sehepunkte zu ändern. Dinge, die im wahrsten Sinne des Wortes nicht in die Bücher oder Artikel passten, hatten noch immer dankbare Abnehmer bei den Radiostationen oder umgekehrt.“

Meyers mustergültig und akribisch erarbeitete, jedoch immer wieder sehr stark ins Detail gehende Darstellung ist sicherlich keine leichte Kost und sollte nicht als „Einstiegslektüre“ in Leben und Werk von Hannah Arendt verstanden werden. Vielleicht muss man, wenn man zu ihren Werken greift, überhaupt das Folgende berücksichtigen: „Arendts Pfade enden nicht jäh im Unbegangenen, sie läuft stets quer über die Gleise, die die Traditionen legten, und ist darin der Literatur in ihren vielfältigen Erscheinungsformen gewiss näher als der Philosophie in ihren übersichtlichen Formausprägungen.“

 

Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie, Piper Verlag, München 2023, 521 Seiten, 28,00 Euro.

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Kehren wir noch einmal zurück nach Paris in das Jahr 1936. In einem kleinen Café im Herzen der französischen Hauptstadt saßen sie sich zum ersten Mal gegenüber: Hannah Arendt und ihr späterer zweiter Ehemann Heinrich Blücher. Schon da scheinen sie sich ineinander verliebt zu haben. So jedenfalls beschreibt Barbara von Bechtolsheim in ihrem jüngsten Buch den Beginn einer außergewöhnlichen, mehr als drei Jahrzehnte währenden Partnerschaft. Besonderes Augenmerk schenkt sie darin dem Einfluss von Blüchers Persönlichkeit und dessen Denken auf das Werk von Hannah Arendt.

„Beim Flanieren durch die Passagen von Paris“, so Bechtolsheim, „lassen sie sich von endlosen Gesprächen beflügeln und begründen ihre produktive intellektuelle Werkstatt.“ Schon bald werden sie zum Mittelpunkt eines Freundeskreises namhafter Emigranten. Ab 1938 trifft man sich in der Rue Dombasle 10, in der Wohnung von Walter Benjamin, dem Großcousin von Arendts erstem Ehemann Günther Anders. Ihre Themen sind die französische Politik sowie die deutsche Philosophie und Literatur.

Auch in Amerika, wohin das inzwischen verheiratete Paar 1941 übersiedelt, versammelt sich schnell ein Kreis Gleichgesinnter um sie. Und wieder ist das bestimmende Moment dieser Zusammenkünfte der Dialog zwischen Arendt und Blücher, ihre intellektuelle Wachheit und das Vergnügen, denkend gegen den Strom zu schwimmen. Im Gespräch mit ihrem Mann, dessen Urteilskraft sie besonders schätzt, präzisiert Arendt ihre Gedankengänge. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung in einem Brief an ihren akademischen Lehrer Karl Jaspers vom 29. Januar 1946, wo es hieß: „Meine nicht-bürgerliche oder literarische Existenz beruht darauf, daß ich dank meines Mannes politisch denken und historisch sehen gelernt habe.“ Fast zwei Jahrzehnte später kam Jaspers noch einmal darauf zurück. „Von Heinrich sind Impulse zu Dir gelangt“, schrieb er Arendt, „ich übersehe das nicht. Aber es scheint mir: wie Platos Gedanken nicht ohne Sokrates wären, so Deine, wie sie geworden sind, nicht ohne Heinrich.“ Mit dem plötzlichen Tod von Heinrich Blücher im Oktober 1970 endete das „gemeinsame dialogische Denken“, von ihm beschrieben als ein Streiten zwischen „Hausteufelchen“ und „altem Poltergeist“.

Bechtolsheim, die sich seit Jahren mit dem Thema der Kreativität in und von Paarbeziehungen beschäftigt, schließt ihr unbedingt zu empfehlendes Buch mit einem Satz, den man nur unterstreichen kann: „In der Offenheit für andere Sichtweisen, im aktiven Zuhören, im fortgesetzten Versuch zu verstehen bleiben [Arendt und Blücher] richtungsweisend.“

 

Barbara von Bechtolsheim: Hannah Arendt und Heinrich Blücher. Biografie eines Paares,
Insel Verlag, Berlin 2023, 280 Seiten, 25,00 Euro.