Denkt man an Hannah Arendts Biografie, fällt unweigerlich auch sein Name: Heinrich Blücher (1899–1970). Mehr als drei Jahrzehnte lebten sie Seite an Seite. In einem Brief vom Dezember 1965 beschrieb Karl Jaspers die Beziehung zwischen der akademisch geschulten Theoretikerin und dem durch seine praktisch-politischen Erfahrungen geprägten Autodidakten mit den Worten: „Von Heinrich sind Impulse zu Dir gelangt, ich übersehe das nicht. Aber es scheint mir: wie Platos Gedanken nicht ohne Sokrates wären, so Deine, wie sie geworden sind, nicht ohne Heinrich.“
Kennengelernt hatten sich die beiden 1936 in Paris, vier Jahre später heirateten sie. Im Mai 1941 gelang ihnen über Lissabon die Flucht nach Amerika. Blücher arbeitete zunächst in einer Fabrik, später war er als Lecturer an der Princeton University tätig. Als der Vertrag nicht verlängert wurde, schlug er sich als Radio-Texter und Gelegenheitsjournalist durch. Schließlich schaffte er – ohne jeglichen akademischen Abschluss! – 1950 den Sprung an die New School for Social Research in New York, wo er bis 1959 Philosophie und Kunstgeschichte unterrichtete. 1952 erhielt er zudem eine Professur am Bard College in Annandale-on-Hudson, die er bis 1968 innehatte.
Mit Blick auf eine derartige akademische Karriere erwartet man ein umfangreiches, in zahlreichen Bänden zusammengefasstes Werk. Nicht so bei Heinrich Blücher, der zeitlebens mit dem Schreiben haderte. So berichtete er Hannah Arendt im August 1941: „Ich murkse seit einer Woche an einer Arbeit für die [von Klaus Mann herausgegebene Zeitschrift] ,Decision‘ und habe heute glücklich alles Geschreibsel weggeschmissen und fange unentwegt von vorne an.“ Zu einem Abschluss kam er jedoch nicht … Und im Februar 1950 beklagte er: „Ja, die gute Fee hat gesprochen, ,der Junge soll Urteilskraft haben‘, und die böse Fee hat unterbrochen und den Satz beschlossen, ,und sonst nichts‘. Dabei bleibt es wohl.“
Ein rechtzeitig zu Blüchers 50. Todestag erschienener Band dokumentiert jetzt erstmals, welchen Stellenwert sein vor allem im mündlichen Diskurs zutage getretenes Urteilsvermögen für Hannah Arendts Überlegungen hatte. Die beiden dazu von Ringo Rösener ausgewählten Texte „Das Perpetuum mobile. Staat und Armee des Faschismus“ sowie „Nationalsozialismus und Neonationalismus“ entstanden in den 1940er Jahren. Die darin von Blücher entwickelten Gedanken sind geprägt von seiner proletarisch-kommunistischen Herkunft. Wurde der erste Text noch ganz unter dem Eindruck der in Deutschland erlebten Jahre des aufkommenden Nationalsozialismus geschrieben, so findet sich in seinem einzigen, 1949 in der Amerikanischen Rundschau publizierten Artikel „Nationalsozialismus und Neonationalismus“ eine dem Leben in den USA und dem Einfluss von Hannah Arendt geschuldete Korrektur seines vorherigen Denkens. So stellte Blücher unter anderem fest: „Der Mensch hat sich selbst zum Fetisch des Menschen gemacht. Philosophisch-kulturkritisch gesprochen, ist der Mensch in einen Prozess der Selbstvergottung eingetreten […], und dieser Selbstvergottungsprozess ist seine Form der Selbstvernichtung. Politisch-kritisch gesehen, stehen wir der Machtmechanik des totalen Imperialismus gegenüber, der sich anschickt, mittels eines Erlösungsfetischs unsre sozialen Probleme bis zur völligen Auflösung der Gesellschaft und unsre nationalen Probleme bis zur Vernichtung der Völker voranzutreiben.“
In ihrem gemeinsam verfassten Nachwort verweisen Ringo Rösener und Eyck-Marcus Wendt zum einen auf die Tatsache, dass Blüchers „Texte einen unverstellten und in Lebenserfahrung basierenden Zugang zum Nationalsozialismus und Totalitarismus zeigen“. Zum anderen – und das ist für weitergehende Untersuchungen sicherlich noch interessanter – liefern diese Texte aber auch „Hinweise auf den Prozess der Erarbeitung vor allem der Ausführungen zum Totalitarismus“, wie wir sie in Arendts zuerst 1951 veröffentlichtem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ wiederfinden. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Rösener und Wendt durch ihre weitergehenden Nachforschungen zur Person zahlreiche Details in Blüchers lückenhafter Biographie korrigieren und ergänzen konnten, das betrifft vor allem Konkretisierungen seines politischen Lebenslaufs bis in die 1940er Jahre.
Alles in allem eine bemerkenswerte Veröffentlichung, die das bisherige Bild von Hannah Arendts zweitem Ehemann um einen wichtigen Aspekt erweitert.
Heinrich Blücher: Versuche über den Nationalsozialismus, hrsg. von Ringo Rösener. Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 173 Seiten, 24,00 Euro. Hingewiesen sei auch auf das an der Universität Leipzig angesiedelte Heinrich Blücher Project.
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