Vor Jahren veröffentlichte ich einen Artikel zum „Daschner-Fall“. Zur Erinnerung: Der Jurastudent Magnus Gäfgen lockte den elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler in seine Wohnung – und erdrosselte ihn. Nach seiner Verhaftung gestand Gäfgen zwar die Entführung, sperrte sich jedoch, den Ort zu offenbaren, an dem sich das Entführungsopfer befinde, so den Eindruck erweckend, dass das Kind noch lebe. Um dessen Leben zu retten, ließ der damalige stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident Wolfgang Daschner Gäfgen Folter androhen. Gäfgen knickte ein, gestand und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest, die einer Strafrestaussetzung zur Bewährung nach der Mindestdauer von 15 Jahren entgegensteht. Mit der Leidenschaft eines Beamten hatte Daschner sein Vorgehen protokolliert und konnte so später wegen Verleitung zu einer Straftat auf Bewährung verurteilt werden. Gäfgen wollte mit einer Verfassungsbeschwerde sein Urteil abwenden, was nicht gelang. Hätte selbige Erfolg gehabt, so „(wäre) Magnus G. womöglich nach ein paar Jahren ein freier Mann […] Unfassbar für die deutsche Öffentlichkeit. Grausam für die Familie von Metzler“, so befand ein Zeit-Artikel damals.
„Unfassbar für die Öffentlichkeit“ – das fiel mir wieder ein, als ich las, dass das Bundesverfassungsgericht die neue „Nr. 5“ in Paragraf 362 der Strafprozessordnung für „unvereinbar und nichtig“ erklärte. Damit ist entschieden: Ein rechtskräftig Freigesprochener darf wegen derselben Tat nicht erneut verfolgt und vor Gericht (ne bis in idem) gestellt werden; die Neuregelung sei mit dem Grundgesetz Artikel 103 nicht vereinbar. Immerhin stimmten zwei Mitglieder des Senats gegen die Mehrheit; sie hielten eine solche Regelung prinzipiell für möglich.
Zustande gekommen war diese nun abgeschmetterte Zusatzreglung durch das jahrzehntelange Drängen des Beschwerdeführers Hans von Möhlmann. Er startete eine Petition, die fast 200.000 Menschen unterschrieben. 2021 verabschiedete die Große Koalition von Union und SPD die Änderung in der Strafprozessordnung; Anfang 2022 trat sie in Kraft. Damit wäre es möglich gewesen, den mutmaßlichen Mörder von Möhlmanns Tochter Frederike noch einmal anzuklagen.
Die Zurückweisung durch das Bundesverfassungsgericht ist schwer zu ertragen. Denn es ginge nicht um simple Eierdiebe oder Einbrecher. Möglich gemacht werden sollten aufgrund neuer Beweise (propter nova) vielmehr Wiederaufnahmeverfahren bei schwersten Gewalttaten: Mord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit; Straftaten also, die nicht verjähren, und nur diese. Es hätte nur singuläre Fälle betroffen. Ein solcher wäre der Mord an Frederike: Weil kein Bus mehr fuhr, entschloss sich die damals 17-Jährige nach einer Chorprobe am Abend, die 14 Kilometer bis nach Hause zu trampen. Doch dort kam sie nie an. Vier Tage später entdeckten Spaziergänger ihre Leiche, Frederike war vergewaltigt und mit mehreren Messerstichen getötet worden.
Der Tatverdacht fiel auf einen 22-Jährigen, der wegen Mordes an der Schülerin zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und verwies das Verfahren an ein anderes Landgericht, das den Tatverdächtigen aus Mangel an Beweisen freisprach.
30 Jahre später schauten sich Ermittler den Fall noch einmal an. An Frederikes Slip konnten DNA-Spuren gesichert und analysiert werden – eine Methode, die es in den 1980er Jahren noch nicht gab. Es stellte sich heraus: Die Spuren stammen höchstwahrscheinlich vom damals Freigesprochenen. Aufgrund der neuen Gesetzeslage wurde erneut gegen ihn ermittelt; ein Prozess war schon terminiert. Doch die Verteidiger des Mannes legten Verfassungsbeschwerde ein und bekamen recht. Das Verfahren gegen den Tatverdächtigen musste eingestellt werden. Damit bleibt der Mord an Frederike von Möhlmann ungesühnt.
Die „deutsche Öffentlichkeit“ kann häufig das Recht, die konkrete Rechtsprechung und ihre Urteile „Im Namen des Volkes“ nicht verstehen; das Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen ist verletzt: Wenn etwas unfassbar für die Öffentlichkeit ist, sollte darüber nachgedacht werden, warum das so ist; es muss nicht immer an der Öffentlichkeit liegen.
Das moderne Recht folgt schon lange nicht mehr der schönen Maxime ius est ars boni et aequi (Recht ist die Kunst des Guten und Gerechten), verewigt am Giebel mancher deutscher Gerichtsgebäude. Aber gut oder ein wenig besser und ein wenig gerecht(er) oder plausibler müsste es bezüglich der Rechtsprechung in den Augen der Öffentlichkeit manchmal schon zugehen, auch wenn dabei gelegentlich über das Ziel hinausgeschossen wird; Stichwort beispielsweise „Wegschließen für immer“ von gewissen Verbrechern… Wie ist es heute um das „Gute und Gerechte“ der Rechtskunst bestellt?
Niklas Luhmann vertritt in seinem Buch „Legitimation durch Verfahren“ die These, dass rechtlich normierte Verfahren letztlich rechtliche Entscheidungen zu legitimieren vermögen. Das leuchtet ein. Dahinter verbirgt sich ein langer, ein notwendiger historischer Prozess der Ausdifferenzierung des Rechts, also der Trennung des Rechts von anderen sozialen Instituten – von dem der Religion, der Politik und auch der gesellschaftlichen Moral … Nicht mehr invariant vorgefundene Wahrheiten legitimieren das Recht, sondern das Verfahren selbst; die Rechtsprechung ist so rekursiv, also selbstbezüglich. Mit anderen Worten: Die Aufgabe des Rechts in juristischen Verfahren besteht darin, über deren Legitimität – nach allen Seiten! – zu wachen. Auch die rechtliche Norm kann aus sich selbst heraus und aus ihren Wirkungen erklärt werden; damit ist das Rekursive am Recht momentan das Dominierende.
Und das halte ich für ein ernsthaftes Problem; hier liegt auch mein Unbehagen: Offensichtlich ist gegenwärtig die Ausdifferenzierung des Rechts so weit getrieben worden, dass Recht und Moral zu weit auseinandergetreten sind; der Selbstbezug hat hermetischen Charakter angenommen, so dass es juristischen Verfahren und Entscheidungen häufig an obiger Legitimation gebricht. Ohne hier Beispiele anzuführen, die es in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte zuhauf gibt, will ich nur an das Diktum der DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley erinnern: Wir suchten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Mit ihrer Entscheidung machten die Bundesverfassungsrichter desgleichen klar: Rechtssicherheit geht vor Gerechtigkeit.
Man muss die Unabhängigkeit der Justiz in keiner Weise infrage stellen, um nicht doch einigen Zweifel zu hegen: Alle diese Verfahren, Urteile sind durch das positive Recht, also durch Gesetze, Paragrafen, kodifiziertes Recht gedeckt; darauf basiert obige „Verfahrensgerechtigkeit“. Jedoch genauso manifest ist der Eindruck, dass sich das positive Recht vom Naturrecht – wenn man so will, vom permanenten gesellschaftlichen Wandel unterworfenen Rechtsempfinden der Menschen – entfernt hat. Das macht aus, dass das Recht in nicht wenigen Fällen in den Augen einer Mehrheit, wenn nicht als Unrecht, so doch als Rechtsbeugung erscheinen lässt. Und ob das auf Dauer unserem Gemeinwesen dienlich ist, wage ich zu bezweifeln. Auch die bekannte Politik- respektive Parteienverdrossenheit dürfte hier eine ihrer Grundlage haben.
Eine rechtliche Norm kann darüber hinaus oder auch vorrangig aus den Intentionen des Normengebers Legitimation beziehen, und zwar dann, wenn der Normengeber sich als rechtlicher Repräsentant des Gemeinwesens sieht. Damit kann dem Selbstbezug entgegengewirkt werden. Ein modernes Recht, weiterhin auf dem legitimierten Verfahren fußend, sollte jedoch mehr Offenheit für diese Art der Normenbildung im Auge haben, mehr auf die Anpassungsfähigkeit des Rechts an den das Rechtsempfinden der Menschen berührenden Wandel der Gesellschaft setzen. Der Rechtsgeschichtler Uwe Wessel hatte wohl Gleiches im Sinn, als er schrieb, dass es weiterhin Verbindungen des Rechts „mit der Allgemeinmoral gibt. Ändert sie sich erheblich, dann muss sich auch das Recht ändern“. Die abgeschmetterte „Nr. 5“ wäre ein Schritt in diese Richtung gewesen.
Schlagwörter: Bundesverfassungsgericht, Frederike, Mord, Recht, Rechtsprechung, Stephan Wohanka