26. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2023

Zwei Schriftstellerinnen

von Mathias Iven

Schon mit 14 wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. Die Rede ist von Brigitte Reimann, die 1933 in Burg bei Magdeburg geboren wurde und mit nicht einmal 40 Jahren am 20. Februar 1973 nach langer schwerer Krankheit verstarb. Welch ein intensives Leben sie in dieser kurzen Zeitspanne geführt hat, zeigt die jüngst erschienene Biographie von Carsten Gansel.

Vieles aus ihrem Leben, erklärte Gansel in einem Interview mit der Berliner Zeitung, war bisher schlichtweg nicht bekannt. Auf mehr als 700 Seiten liefert er eine Fülle von Material, das zu einem tiefergehenden Verständnis von Reimanns Werk beiträgt. Da sind zum Beispiel Tagebuchnotizen der Vierzehnjährigen oder ihre bislang nicht näher betrachteten Laienspiele. Gerade sie zeigen, über wie viel Sprachgefühl, Witz und Ironie Reimann schon als Schülerin verfügte. Hinzu kommt ihr bereits früh ausgeprägtes „Empfinden für Geschlechterklischees und die nicht hinreichende Wertschätzung des Weiblichen“.

In seinem Vorwort betont Gansel, dass diese Biographie auch ein Versuch sei, „Aspekte von DDR-Geschichte neu zu buchstabieren. Der Blick zurück verlangt eine Grenz-Überschreitung – das Bemühen um einen Blick-Wechsel, der inzwischen eingeschliffene Wertungsraster zu vermeiden sucht.“ Anders formuliert: „Mit Brigitte Reimann steht man vor der Notwendigkeit, DDR zu erzählen, jenseits von Diktaturgeschichten.“ Dabei geht es vornehmlich um die unmittelbare Nachkriegszeit, um Ereignisse wie den 17. Juni 1953 oder die Schauprozesse gegen die „konterrevolutionäre Gruppe“ um Harich, Janka und Just in den Jahren 1956/57. Was passierte in den Arbeitsgemeinschaften junger Autoren und im Schriftstellerverband? Und nicht zuletzt liefert Gansel auch eine Darstellung der Aktivitäten der Staatssicherheit gegen die Autorin.

Mag diese Biographie an der einen oder anderen Stelle auch wie eine Geschichtsbetrachtung der jungen DDR daherkommen – es ist der einzig gangbare Weg, das Wie und Warum von Brigitte Reimanns Schreiben zu erklären. Die in diesem Zusammenhang gern gestellte Frage „Was bleibt von der Person und ihrem Werk?“ beantwortet Carsten Gansel mit den Worten: „Wie aktuell wirkt aus heutiger Sicht dieses unangepasste Leben einer Schriftstellerin, die vielen als Femme fatale galt, aber vor allem eine moderne, selbstbestimmte Frau war, deren Literatur sich für jede neue Generation als erstaunlich relevant erweist.“

Fazit: Unbedingt lesen! Etwas Fundierteres zu diesem Thema wird es in den nächsten Jahren nicht geben.

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Fünfzig Jahre nach ihrem Tod erinnert sich der Bruder an seine Schwester: Ingeborg Bachmann, gestorben am 17. Oktober 1973 in Rom an den Folgen eines Brandunfalls. Es ist ein sehr persönliches Buch, das Heinz Bachmann seiner 13 Jahre älteren Schwester gewidmet hat.

Seine früheste Erinnerung geht zurück in das Jahr 1945. Klagenfurt war schwer bombardiert worden und Ingeborg kümmerte sich um den Bruder und die jüngere Schwester Isolde. Die Verantwortung, die die Älteste für die Geschwister übernahm, blieb auch in den späteren Jahren präsent. Erst im Erwachsenenalter relativierte sich das Verhältnis; nun konnten die Geschwister das eine oder andere Mal auch Ingeborg helfen. Überhaupt, das machen die Erinnerungen von Heinz Bachmann deutlich, war der Zusammenhalt in der Familie sehr stark. Es waren vor allem die Eltern, die als eine Art Ruhepol die Familie zusammenhielten. In einem rbb-Interview sprach Heinz Bachmann davon, dass das Elternhaus seiner Schwester Schutz bot und einen Rückzugsort darstellte. „Sie war in einer sehr exponierten Lage, als Schriftstellerin und alleinstehende Frau, die schreibt, berühmt ist und sehr viel auf Reisen ist.“ Bereits sehr früh sei ihr eine Sonderstellung zugefallen. „,Sie ist eine Dichterin.‘ Dieser Satz ging schon gleich nach dem Ende des Krieges wie ein Raunen durch unser Dorf.“

Heinz Bachmann erinnert sich auch an Personen, die den Weg seiner Schwester kreuzten. Da war Jack Hamesh, Offizier des Field Security Service der britischen Armee, den Ingeborg nach der Befreiung im Mai 1945 kennenlernte, oder der Wiener Literat Hans Weigel und natürlich Paul Celan. Und irgendwann kam Max Frisch. „Für mich selbst“, schreibt Heinz Bachmann über ihn, „blieb Max Frisch immer Herr Frisch, niemals Max. Ganz allgemein fehlte es an Herzlichkeit.“ Mit Blick auf die Ende 2022 veröffentlichte Korrespondenz zwischen Bachmann und Frisch bemerkt er: „Was mich beim Lesen der Briefe noch heute verwundert, ist, dass er meiner Schwester oft Durchschriften, nicht die Originale schickte. Wer macht so etwas?“

Was den besonderen Reiz dieser Erinnerungen ausmacht, sind die Bezüge, die Heinz Bachmann an zahlreichen Stellen zum Werk seiner Schwester herstellt und die zu einer neuerlichen Lektüre anregen. Auch nach fünfzig Jahren, so schreibt er am Schluss seines Buches, bewirkt ihr Werk, „dass Ingeborg jeden Tag in unserem Leben gegenwärtig ist“.

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Zeitgleich zu den Erinnerungen von Heinz Bachmann ist ein weiterer Band der gemeinsam von den Verlagen Piper und Suhrkamp herausgegebenen „Salzburger Bachmann Edition“ erschienen. Darin enthalten die bislang gesperrten Briefwechsel mit Marie Luise Kaschnitz, Hilde Domin und Nelly Sachs. Alle drei nach Herkunft, Alter, Lebensweg und Lebenserfahrung so verschiedenen Schriftstellerinnen waren, wie es Hans Höller in seinem Vorwort ausdrückt, vom „Bewusstsein des ,Nach 1945‘“ geprägt. Und so war ihr Schreiben nicht allein darauf gerichtet, im literarischen Leben der Nachkriegszeit ihren Platz zu finden, es galt vor allem, sich in einem männlich dominierten literarischen Terrain mit eigener Stimme zu positionieren.

Mit Nelly Sachs stand Bachmann seit 1958 in Kontakt. Zwar ist beider Korrespondenz mit 19 überlieferten Briefen äußerst schmal (von Bachmann haben sich nur zwei Telegramme erhalten), dennoch sprechen diese wenigen Dokumente von einer innigen Verbundenheit und einem wortlosen Verstehen der beiden Schriftstellerinnen. So schrieb Sachs in einem Bachmann gewidmeten Gedicht: „Von / lang – lang her kommt / unsere Schwesternschaft – / geht weit weit in die Ferne / wird das sein – Dort – Dort –“.

Zu der erst 1954 aus dem mehr als zwanzigjährigen Exil nach Deutschland zurückgekehrten Hilde Domin fand Bachmann keine rechte Beziehung und wich dem Umgang mit ihr immer mehr aus. Beispielhaft dafür steht die Reaktion auf Domins Vorschlag vom Sommer 1965, in Schulen Gedichte zu lesen und zu interpretieren, um so auf die Jugend einzuwirken. Bachmann antwortete darauf: „Erlassen Sie mir bitte lange Erklärungen – ich kann es nicht machen, fühle mich wirklich ausserstande, eines meiner Gedichte zu interpretieren. […] Halten Sie mich bitte trotzdem nicht für einen Saboteur einer so guten Sache, wenn ich meine, dass andere Unterrichtungen wichtiger sind und ich mir daher für junge Leute andere Beschäftigungen ausdenke als das Diskutieren von Gedichten.“

Mit insgesamt 33 Schreiben aus den Jahren 1954 bis 1973 ist der Briefwechsel mit Marie Luise Kaschnitz der umfangreichste des Bandes. Durch den persönlichen Umgang – besonders in Rom, wo Kaschnitz schon vor dem Zweiten Weltkrieg ihren Wohnsitz hatte – kamen sich die beiden schnell näher, was sich auch in ihren Briefen und der darin aufscheinenden Anteilnahme am Lebensalltag der jeweils anderen zeigt.

Barbara Agnese hat als Herausgeberin eine hervorragende Arbeit geleistet. Rückt sie doch die teils nur schwer erkennbaren thematischen Zentren der Briefwechsel in den Blick und deckt die feinen Verbindungslinien zwischen den Protagonistinnen auf.

Carsten Gansel: „Ich bin so gierig nach Leben“. Brigitte Reimann – Die Biographie. Aufbau Verlag, Berlin 2023, 704 Seiten, 30,00 Euro.

Heinz Bachmann: Ingeborg Bachmann, meine Schwester. Erinnerungen und Bilder, Piper Verlag, München 2023, 126 Seiten, 24,00 Euro.

Barbara Agnese (Hrsg.): Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz, Hilde Domin, Nelly Sachs – „über Grenzen sprechend“. Die Briefwechsel. Piper Verlag / Suhrkamp Verlag, München/Berlin/Zürich 2023, 364 Seiten, 40,00 Euro.