Stellt man der Suchmaschine Microsoft Bing, die mit einer Künstlichen Intelligenz arbeitet, die Frage, wie viele zivile Opfer es bei den konventionellen US-Flächenbombardements gegen japanische Städte im Zweiten Weltkrieg gab, enthält die Antwort unter anderem diese Passage: „Die genaue Zahl der Toten und Verletzten ist schwer zu ermitteln, da viele Leichen verbrannt oder nicht identifiziert wurden. Schätzungen zufolge starben zwischen 241.000 und 900.000 Menschen durch die US-Luftangriffe.“ Deren schlimmste waren jene auf Tokioter Wohngebiete am 9. und 10. März 1945 mit über 100.000 Todesopfern.
Dass die japanische Führung um Kaiser Hirohito angesichts dieser Verluste eine bedingungslose Kapitulation erwogen hätte – davon ist nichts bekannt. Hirohito gab seine entsprechende Rundfunkerklärung vielmehr erst am 15. August 1945 ab. Da hatte es durch die Auslöschung der Städte Hiroshima und Nagasaki infolge der US-Atombombenabwürfe am 6. und 9. August zwar weitere über 100.000 sofortige Todesopfer gegeben, doch entscheidender war eine zeitgleiche andere militärische Entwicklung: Ebenfalls am 9. August – wie Stalin den Westalliierten kurz zuvor in Potsdam zugesagt hatte – war die Rote Armee in einer groß angelegten Zangenoperation zum Angriff auf die japanische Kwantung-Armee übergegangen, die in China stationiert und mit über 600.000 Mann die letzte Großformation der Landstreitkräfte des Kaiserreiches war. Sie wurde binnen weniger Tage überrannt. Über ein halbe Million Japaner gerieten in Gefangenschaft. Sowjetische, heute russische, und andere Historiker sahen und sehen seither darin den maßgeblichen Anstoß zur japanischen Kapitulationsbereitschaft.
Ganz anders die seit 1945 gepflegte vorherrschende westliche Sicht: „[…] erst mit dem Einsatz zweier Atombomben erzwingen die USA […] die Kapitulation Japans.“ (By the way: Da kommt die Frage, ob es sich möglicherweise um Kriegsverbrechen gehandelt haben könnte – immerhin waren die Atombombenabwürfe Terrorangriffe gegen die Zivilbevölkerung von zwei militärisch weitestgehend irrelevanten Großstädten – gar nicht erst auf.)
Das Zitat stammt von Rüdiger von Fritsch, bis 2019 Deutschlands Botschafter in Moskau, und findet sich gleich zu Beginn seines kürzlich erschienenen Buches „Welt im Umbruch. Was kommt nach dem Krieg?“ Womit natürlich jener in der Ukraine gemeint ist.
Angesichts einer derart holzschnittartigen, undifferenzierten, ja ahistorischen Sicht fragte sich der Rezensent spontan, was ihn wohl sonst noch so erwarten mochte auf den nachfolgenden und insgesamt immerhin über 200 Seiten. Er sollte nicht enttäuscht werden.
Geradezu liturgisch mutet von Fritschs Bekenntnis zu den USA und den Segnungen an, die diese über die Welt gebracht hätten und weiterhin brächten: „Die größte Volkswirtschaft gebietet über die mächtigsten Streitkräfte und ist die Schutzmacht der freien Welt, die einzige Demokratie, die Autokraten wirklich die Stirn bieten kann.“ Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hätte Washington „die Idee der Freiheit […] mit Entschlossenheit in (sic!) allen Kontinenten“ verteidigt.
Ob es Sinn hätte, dem Autor zur Ausdifferenzierung seines Weltbildes Bernd Greiners „Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben“, 2021 beim renommierten Verlag C.H. Beck erschienen, zu empfehlen? (Oder zumindest die Besprechung des Buches im Blättchen 20/2021.) Wahrscheinlich nicht. Denn wie sagt der Volksmund so trefflich: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“
Vor diesem Hintergrund ist es im Übrigen völlig folgerichtig, dass, wenn zwei das Gleiche tun, dies noch lange nicht dasselbe ist. So schloss das US-amerikanische Engagement für die Freiheit in der Welt zwar „schreckliche Irrwege wie den Krieg in Vietnam“ mit ein, doch das jetzige Vorgehen Moskaus gegen die Ukraine gehört natürlich in eine völlig andere Kategorie – nicht Irrweg, sondern „schwerste Verletzung des Völkerrechts, deren Urheber in die Schranken zu weisen ist“.
Diese Art doppelter Standard ist geradezu ein Markenzeichen des Autors von Fritsch. Dem sind zum Beispiel die USA „internationale Ordnungsmacht mit globalem Gestaltungsanspruch“, wohingegen Chinas zunehmender internationaler Rolle abwehrend zu begegnen sei, weil sie „den globalen Machtanspruch der USA infrage“ stelle.
Dazu passt, dass der Ukraine-Krieg bei von Fritsch, anders als bei der gefühlten Mehrheit der hiesigen politischen und medialen Einlasser zu diesem Thema, zwar durchaus eine Vorgeschichte hat, doch ist diese ausschließlich zulasten Moskaus zu erzählen. So zum Beispiel im Hinblick auf den Georgien-Krieg von 2008, „als es Russland gelang, Georgien zu einem Angriff zu provozieren“. Der scheiterte bekanntlich. Doch der Background passt nicht zu von Fritschs Sichtweise und wird daher ausgeblendet. Der kritische Leser könnte allerdings schon stutzig werden: Wenn ein Zwerg (Georgien), ob nun provoziert oder nicht, gegen einen Riesen wie Russland handgreiflich wird, dann ist er entweder bescheuert oder glaubt, ein Ass im Ärmel zu haben. Das Ass waren im Falle des damaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili, eines US-Importes, dessen von Washington entsandte Berater. Deren Einflüsterungen meinte dieser entnehmen zu dürfen, dass die USA im Kriegsfall zugunsten Tbilisis militärisch intervenieren würden. Pustekuchen. Washington ging es nicht um die Freiheit Georgiens, sondern um Nadelstiche gegen Moskau. Und dort nutzte man, so von Fritschs fortgesetzte Exkulpierung Tbilisis, „politisches Ungeschick der georgischen Führung als Vorwand, dem Nachbarn Gebiete zu entreißen“.
Themenwechsel: Überdies verkündet der Autor: „Das deutsch-französische Verhältnis ist von jeher eines der vorsätzlichen Freundschaft gewesen […].“
Wie bitte?
War der Geschichtsunterricht in der alten BRD wirklich so grottig?
Deutschland und Frankreich haben zwischen 1870 und 1945 drei Kriege gegeneinander geführt, einer immer verheerender und barbarischer als der andere, jeweils insbesondere von deutscher Seite. Das allgemein gebräuchliche Synonym für den „Franzmann“ lautete deutscherseits jahrzehntelang Erbfeind! Es bedurfte so herausragender, mit den Erfahrungen zweier Weltkriege versehener Persönlichkeiten wie Jean Monnet, Robert Schuman, Konrad Adenauer und anderer, um überhaupt einen tragfähigen Ansatz zu entwickeln, um aus diesem Teufelskreis auszubrechen, und es bedurfte langjähriger beidseitiger politischer, wirtschaftlicher und interkultureller Anstrengungen, bis westdeutsch-französische Aussöhnung kein bloßes Lippenbekenntnis mehr war, sondern gesellschaftlich gelebte Realität wurde. Vielleicht ließe sich aus dieser historischen Entwicklung einiges an Erkenntnis im Hinblick auf einen künftigen vergleichbaren Prozess im Verhältnis zu Russland gewinnen. Wenn man denn wollte. Was aber bei von Fritsch augenscheinlich kein Thema ist.
PS: Zu den unter dem Strich ödesten Ritualen in der DDR, war man, wie der Rezensent, Mitglied der SED, gehörte das monatliche Parteilehrjahr. Zu dem hatten sich die Genossen zusammenzufinden, um – jahrein, jahraus – in stereotypen Wiederholungsschleifen der kanonisierten marxistisch-leninistischen Theoreme, für die der heute gängige Modebegriff Narrativ nicht gänzlich unzutreffend wäre, und nach dem pädagogischen Holzhammerprinzip verfestigen durch Wiederholung ideologische Selbstvergewisserung zu exerzieren.
Dergleichen gibt es heute natürlich nicht mehr.
Doch die feindbildaffine Russland-Berichterstattung unserer Mainstreammedien und zahllose ebenso konnotierte Experteneinlassungen hierzulande kommen dem konzeptionellen Ansatz des früheren SED-Parteilehrjahres inzwischen mehr als nur nahe. Rüdiger von Fritschs jüngstes Opus inklusive.
Rüdiger von Fritsch: Welt im Umbruch. Was kommt nach dem Krieg?, Aufbau Verlag, Berlin 2023, 207 Seiten, 18,00 Euro (Paperback), 13,99 Euro (Kindle).
Schlagwörter: Hannes Herbst, Krieg, Parteilehrjahr, Rüdiger von Fritsch, Russland, Ukraine, USA