26. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2023

Volksaufstand am 17. Juni in der DDR:
Die Parallelen zwischen Krim und Kuba

von Friedrich Dieckmann

Als die Volksbewegung, die wir die deutsche demokratische Revolution nennen können, im November 1989 politisch durchdrang, war ihr das möglich geworden, weil sie aus dem Scheitern des 17. Juni 1953 eine entscheidende Lehre gezogen hatte, zusammengefasst in der Parole: „Keine Gewalt!“

Gewalt in Reaktion auf gerade erst revidierte Bedrückungen war bei einem Aufstand vielerorts vorgekommen, der, ausgehend von einer Streikbewegung, planlos und impulsiv vonstatten ging; sie hatte zwangsläufig die Panzer der Besatzungsmacht in Bewegung gesetzt. Damit war der Plan gewiefter Strategen auf dem Kreml genannten Moskauer Olymp aufgegangen. Er zielte darauf, die Position eines Mannes zu erschüttern, der mit der grundlegenden Änderung der SED-Politik, die am 9. Juni in den DDR-Zeitungen gestanden hatte, einen weitreichenden europäischen Friedensplan verknüpfte: des sowjetischen Innenministers und Vizeministerpräsidenten Lawrentij Berija.

Der Plan seiner Widersacher aufseiten der Armeeführung und des Außenministers war hochriskant gewesen. Zu seiner Durchführung bedurfte es der Kaltblütigkeit eines einstigen Partisanen-Generals, den seine politbürokratischen Genossen durchweg unterschätzten. Es bedurfte auch der Mitwirkung des seit Ende Mai in die Verschwörung einbezogenen Hochkommissars in der DDR: Er hieß Wladimir Semjonow und hatte trotz des politischen Vakuums, das die offizielle Zurücknahme der katastrophalen SED-Politik erzeugt hatte, die Streikbewegung gewähren lassen, die seit Anfang Juni in vielen Betrieben angesichts der paradoxen Aufrechterhaltung einer landesweit verkündeten Normenerhöhung qua Lohnsenkung aufgeflammt war.

Der von seinen Moskauer Genossen unterschätzte Präsidiumsgenosse hieß Nikita Chruschtschow und war ein Mann mit zwei Seiten – der eines lebensfrohen ukrainischen Bauern und der eines Politikers und Kommandeurs, der nach zielstrebig-geheimer Vorbereitung den günstigen Augenblick zu erfassen wusste; er war zum Greifen nah, als am Nachmittag des 17. Juni die Katastrophennachrichten vom Aufstand in der DDR in Moskau eintrafen.

Die Bestürzung darüber war so groß, dass es ihm gelang, eine Präsidiumskoalition gegen den nach Stalins Tod beinahe allmächtigen Innenminister zu schmieden. Diese konnte Berija bei einer Kreml-Sitzung mithilfe bewaffnet eingeschleuster Generäle überwältigen und wahrscheinlich sogar „liquidieren“, wie ein in dieser Zeit allgegenwärtiges Fremdwort lautete. Damit war der Kalte Krieg gerettet, an dessen möglicher Beendigung Berija und Churchill in verdecktem Bündnis gearbeitet hatten. Der eine, Berija, war tot, der andere, Churchill, von einem Schlaganfall getroffen, Ulbricht, von seinem eigenen Politbüro abgesetzt, war gerettet – die deutsche Vereinigung, die eine Woche lang als glaubhafte Fata Morgana am Horizont gestanden hatte, war für die Dauer einer Generation abgewendet.

Sechsunddreißig Jahre später lief alles ganz anders. „Keine Gewalt!“ – die Parole der Demonstranten in Plauen, Dresden, Leipzig, Berlin und an vielen anderen Orten setzte sich auch im größeren Maßstab durch; die Welt erlebte das politische Mirakel der Auflösung eines hochgerüsteten Militärsystems mit beiderseitiger Abrüstung ohne gewalttätige Eruptionen.

Das gesamteuropäische Sicherheitssystem, das Berija und Churchill 1953 vorgeschwebt hatte, schien zum Greifen nah, aber statt der Auflösung der Nato, die ihr Widerlager, das sowjetische Imperium, unversehens verloren hatte, begab sich im Lauf von anderthalb Jahrzehnten deren Erweiterung in Richtung Osten, bis mit Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und anderen auch drei ehemalige Sowjetrepubliken dem Militärbündnis einbezogen waren.

Inzwischen führt Russland Krieg gegen einen Nato-Kandidaten, den amerikanische Militärexperten schon in den 80er-Jahren als für Russlands Rolle als Weltmacht ausschlaggebend erkannt hatten: die Ukraine. Nicht deren Mitgliedschaft, nur der Zeitpunkt ihrer Realisierung war 2008 auf der Nato-Konferenz von Bukarest offengeblieben.

Soll man von einem Triumph der Politik des jüngeren Bush in den USA sprechen, dessen weltpolitisches Draufgängertum sich bereits an einem mit gefälschten Begründungen unterlegten Angriffskrieg im Nahen Osten gezeigt hatte? Der russische Präsident ist der Annäherung der Nato an die südwestliche Grenze seines Landes im Februar 2022 mit der Entfesselung eines Krieges begegnet, den er sich so kurzfristig vorstellen mochte wie Bushs Krieg gegen den Irak; er hat sich eklatant ins Unrecht gesetzt und musste erfahren, dass seine großsprecherisch vorgetragene Imperialnostalgie an dem überfallenen und keineswegs wehrlosen Nachbarn binnen weniger Wochen zunichte wurde.

Als die Niederlage der russischen Armee Ende März 2022 auf der Hand lag und Verhandlungen zwischen Vertretern der Ukraine und der Russischen Föderation auf einen Waffenstillstand zuliefen, vervielfachten Großbritannien und die USA ihre Militärhilfe. Es folgte der Abbruch jener Verhandlungen; inzwischen träumen nicht wenige in der Ukraine und andernorts von der Rückeroberung der Krim, die die Kiewer Regierung mit amerikanischem Beifall schon 2021 ausgerufen hatte.

Doch Vorsicht ist geboten. Ist die Krim mit dem Hafen der russischen Kriegsflotte für Russland heute weniger wichtig als Kuba es 1962 für die USA war, die damals zur Verhinderung der von der Sowjetarmee dort errichteten Raketenstationen im Begriff waren, einen Atomkrieg zu führen? Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber man kann Lehren aus ihr ziehen.

Im Hintergrund des 17. Juni 1953 erkennt man ein erbittertes Ringen zweier Säulen der Herrschaft der Kommunistischen Partei über die Sowjetunion: des Geheimdienstes und der Armee. Berija, der Sicherheitschef, erkannte die überforderte innere Lage des unter den Kriegsfolgen und den ungeheuren Kosten der von Berija selbst dirigierten nuklearen Nachrüstung leidenden Landes und ergriff eine weltpolitische Friedensinitiative; die Granden der im Krieg gegen Hitlerdeutschland siegreichen Armee durchkreuzten sie mithilfe des aus dem Schatten der Macht tretenden Nikita Chruschtschow.

Ende der 80er-Jahre war die sowjetische Armee durch ihre Niederlage in Afghanistan und andere Misserfolge so geschwächt, dass Michail Gorbatschow, als er im Bündnis mit dem Sicherheitschef Wladimir Krjutschkow Generalsekretär geworden war, mit einer neuen welt- und europapolitischen Friedensinitiative zum Zuge kam. Dass sie ihr Ziel nicht erreichte, lag am Widerstand des militärisch-industriellen Komplexes der USA, dessen Stimme an der Seite von Präsident Bush senior der Sicherheitsberater Scowcroft war. Es gelang ihm, das von dem Außenminister Baker, von Helmut Kohl, Dietrich Genscher und erst recht von der neuen DDR-Regierung angestrebte gesamteuropäische Sicherheitskonzept auszuhebeln.

Danach versank die Sowjetunion in einem innen- und wirtschaftspolitischen Chaos, das durch die putschende Gegenwehr der alten Garden in Armee und Geheimdienst auf die Spitze getrieben wurde. Eine Gruppe milliardenschwerer Oligarchen ging daraus als Nutznießer des staatswirtschaftlichen Zusammenbruchs hervor; zu ihrer Disziplinierung berief Boris Jelzin vor seinem Abgang einen Geheimdienstoffizier, der sich in der DDR-Revolution friedenssichernd betätigt und in Tschetschenien sein anderes Gesicht gezeigt hatte, Wladimir Putin.

An die Spitze der Pyramide gelangt, ging dieser unter dem Beifall des Deutschen Bundestags mit offenen Armen auf das wiedervereinigte Deutschland zu, dessen offizielle Vertreter heute meinen, von ihm getäuscht worden zu sein. Sieht man auf die Nullerjahre, trifft das Gegenteil zu: Es war Deutschland, das Putins 2007 in vollem Ernst in München vorgetragenen Warnungen in den Wind schlug und ein Jahr später in Bukarest einer Erweiterung der Nato um die Länder Ukraine und Georgien zustimmte, mit dem einzigen Vorbehalt des offenbleibenden Datums. Die Ukraine setzte die perspektivisch fixierte Nato-Mitgliedschaft alsbald in ihre Verfassung.

Das muss eine Armee auf den Plan gerufen haben, die sich, inzwischen reorganisiert und modernisiert, zu neuer Stärke gelangt glaubte. Wie sie auf die Stationierung von Raketenabwehrstationen im östlichen Polen reagierte, die Bush junior und Donald Tusk vier Monate nach der in die Zukunft verwiesenen Nato-Aufnahme der Ukraine verkündet hatten, kann man sich ungefähr vorstellen.

Dass diese Stationen, die sich nach dem Urteil der Fachleute unschwer in offensive Abschussrampen verwandeln lassen, auf die russische Führung nicht weniger alarmierend gewirkt haben als 1961 die amerikanischen Raketenstationen an der türkisch-sowjetischen Grenze, liegt auf der Hand.

Chruschtschow antwortete auf die von ihnen ausgehende Bedrohung mit der Stationierung von Raketen in einem Kuba, dessen Bedrohung durch die nur zweihundert Kilometer entfernten USA manifest war. Wir wissen, wie die Eskalation gegenseitiger Bedrohungen damals endete: beinahe in einem nuklearen Inferno.

Die amerikanischen Atombomber waren startklar und in Moskau und Leningrad gab es Bombenalarm, als Chruschtschow seinen mit Raketenmaterial für Kuba beladenen Schiffen die Order zur Umkehr gab; die Zeit war so knapp, dass er sich des auch in den USA empfangenen Rundfunksenders Tass bedienen musste, um Kennedy sein Einlenken mitzuteilen. In Telefonaten sicherte dieser ihm danach den Abbau der amerikanischen Raketen in der Türkei zu; nichts davon drang an die Öffentlichkeit, ehe sie nicht wirklich abgezogen waren.

In deutschen Medien wird seit Ende Februar 2022 viel über den Kremlherrscher Putin nachgedacht; Psychologen und Dämonologen, von neuen Kremlastrologen zu schweigen, arbeiten sich an der Ergründung seiner Persönlichkeit ab. Sie übersehen meistens, dass es sich um einen ehemaligen Abwehroffizier handelt, also um einen Nichtfachmann auf militärischem Gebiet, um einen Politiker mithin, der gegenüber seiner Armee keine wirkliche Autorität besitzen kann.

Hat Putin auch darum den Umbau des Landes in eine Präsidialdiktatur vorangetrieben? Ging es ihm dabei auch um eine ungeschmälerte Vollmacht über die Armee, die den Geheimdienst von jeher – und in den 30er-Jahren mit allem Grund – als ihren Widersacher angesehen hatte? Um die Gemütslage der russischen Armee einzuschätzen, braucht es nicht viel Psychologie; sie ist von derselben Beschaffenheit wie die jeder anderen militärischen Weltmacht in entsprechender Situation. Sie reagiert auf Provokationen mit Gegenmaßnahmen, die wiederum die andere Seite als Provokationen auffasst; auf diesem Weg geht es dann unter Umständen direkt auf die Katastrophe zu.

Ob sich die russische Armee in der Umarmung Putins oder dieser in der Umarmung der Armee befindet, ist bei alledem schwer zu unterscheiden. Auffällig war, dass es bei einer im Fernsehen übertragenen Präsidialkonferenz im Vorfeld der russischen Aggression allein der Chef des Auslandsgeheimdienstes war, der unter vielen Verbeugungen zur Vorsicht riet. Sicher ist, dass beide Seiten, Staatschef und Armeeführung, sich in der Stärke ihrer Armee markant getäuscht hatten. Als sie das erkannten, kam es Ende März vorigen Jahres mit der Ukraine zu den erwähnten Verhandlungen; wären sie fortgesetzt worden, hätten sie wahrscheinlich zu einem Rückzug auf den Status quo ante vom Januar 2022 geführt, mit der Aussicht auf echte Friedensverhandlungen.

Inzwischen stocken die Kampfhandlungen mit anhaltend hohen Opfern auf einer Linie, innerhalb derer die völlig zerstörte Stadt Bachmut eine Schlüsselposition einnimmt. Die ukrainische Offensive hat begonnen, und die Welt hält den Atem an: Es ist, als ob sie ihr Schicksal auf einen Münzwurf setzte: Adler oder Zahl.

Aber die Alternative ist vordergründig. Denn scheitert die ukrainische Offensive, so wird dem weiteren russischen Vordringen nach dem Urteil der militärischen Fachleute schwerlich eine Grenze zu setzen sein; diese stimmen darin überein, dass die ukrainischen Reserven vor allem an Soldaten beinahe erschöpft sind.

Das ist auf russischer Seite sehr viel weniger der Fall, und wenn die ukrainische Offensive durchgreifend erfolgreich sein sollte, könnte die russische Führung immer noch die Notbremse einer Totalmobilisierung ziehen. Ginge es gar ernsthaft um eine Rückeroberung der Krim, so träte für die russische Führung eine Situation ein, die man nur an der Reaktion Kennedys auf die Installation von Sowjetraketen im nahen Kuba messen könnte. Und da die Raketenwarnzeiten mit neuester Technik immer kürzer geworden sind, ist die Frage, ob ein Abhören von Rundfunksendern dann noch helfen würde. Genauer gesagt: Es ist keine Frage.

Nichts liegt also näher als ein schneller, aber fundierter Waffenstillstand mit umfassenden Garantien für beide Seiten. Im Moskau des Juni 1953, drei Monate nach dem Tod des Despoten, gewann die Armee mit einem Handstreich Übermacht gegenüber einem nach friedlichen Lösungen tastenden Sicherheitsminister. Die Lage ist heute anders; wie die Gewichte auf russischer Seite wirklich verteilt sind, ist nur zu ahnen. Sicher ist: Es gilt, jeden Versuch zu wagen, um zu unterbinden, dass auf beiden Seiten kurzfristige Vorteilsinteressen Oberhand über langfristige Überlebensinteressen gewinnen.

Berliner Zeitung (online), 17.06.2023. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.