26. Jahrgang | Nummer 13 | 19. Juni 2023

Die Hyperinflation vor 100 Jahren

von Ulrich Busch

Es ist jetzt bald einhundert Jahre her, dass die Kriegs- und Nachkriegsinflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte und durch eine Währungsreform und die Einführung einer neuen Währung, der Reichsmark, beendet worden ist. Die aktuelle Inflation seit 2021 bietet mannigfachen Anlass, sich daran zu erinnern und über historische Parallelen und Unterschiede zwischen beiden Ereignissen nachzudenken. Die gravierendste Differenz dürfte das jeweilige Ausmaß der Geldentwertung sein: 1923 war diese nahezu total, heute geht es um etwa 20 Prozent. Weitere Differenzpunkte betreffen die Ursachen des Währungsverfalls, dessen Verlauf und seine schließliche Beendigung.

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs setzte in allen kriegführenden Staaten eine Inflationierung der Währung ein. Besonders heftig jedoch in Deutschland und in Österreich-Ungarn. Die Begründung dafür ist in der Art und Weise der Kriegsfinanzierung über Kredite (statt über Steuern) zu suchen sowie in der Monetarisierung der gestiegenen Staatsschulden, also in der Finanz- und Geldpolitik. Ebenso aber auch im Kriegsverlauf, der für diese Staaten militärisch mit einer Niederlage und ökonomisch wie sozial mit einer Katastrophe endete. 1922/23 erreichte die Geldentwertung in Deutschland ein bis dahin ungeahntes Ausmaß: Die „schleichende“, dann „trabende“ und schließlich „galoppierende“ Inflation seit 1914 war nun in eine Hyperinflation übergegangen. Auf dem Kulminationspunkt der Inflation entsprach das Preisniveau dem 1,2 Billionenfachen des Vorkriegsstandes. Der Wert der Mark war damit auf weniger als ein Billionstel seines Vorkriegswertes gesunken. Zur Deckung des daraus erwachsenden enormen Zahlungsmittelbedarfs wurde die zirkulierende Geldmenge an Reichsbanknoten auf über 400 Trillionen Mark erhöht. Hinzu kamen Reichs- und Darlehnskassenscheine sowie „Notgeld“ im Umfang von mehr als 300 Trillionen Mark. Die Hyperinflation war im Wesentlichen eine Bargeldinflation, aber auch die Buchgeldmenge stieg überdimensional an, bis auf 118 Trillionen Mark im November 1923. Zudem beschleunigte sich der Geldumlauf, was wirkungstechnisch einer zusätzlichen Geldemission gleichkam. Trotzdem herrschte akuter „Geldmangel“, da selbst in der Hyperinflation die Preise schneller stiegen als die Geldmenge.

Es liegt auf der Hand, dass der Anstieg der Geldmenge, dem kein auch nur annähernd gleich großer Anstieg der Warenmenge entsprach, mit einer extremen Entwertung der Währung einherging. Diese lässt sich statistisch anhand des Dollarkurses der Mark veranschaulichen: Lag dieser vor dem Krieg stabil bei 4,20 Mark, so stieg er bis 1918 auf 7,95 Mark. Ende 1919 lag er bei 42,20 Mark, um dann weiter anzusteigen, bis März 1920 auf 100,00 Mark, im Dezember 1921 auf 190,00 Mark und im Juni 1922 auf 272,09 Mark. Nach der Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau am 24. Juni 1922 ging das Vertrauen in die Weimarer Republik vollends verloren. Vom Ausland wurden Kredite abgezogen und mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Januar 1923 wurde Deutschland auch noch seiner wichtigsten Ressourcen beraubt. Daraufhin fiel der Kurs der Mark ins Bodenlose: Musste man im Januar 1923 für einen US-Dollar 7.260,00 Mark bezahlen, so waren dies im Februar bereits 41.500,00 Mark, im Juli 160.000,00 Mark, im August 1.100.000,00 Mark, im September 9.700.000,00 Mark und im Oktober 72.500.000.000,00 Mark. Am 20. November 1923 wurde der Kurs schließlich bei 4,2 Billionen Mark stabilisiert. Dies entsprach einem Wertverfall der Mark auf ein Billionstel ihres Vorkriegswertes! Zuletzt hatten sich die Preise in Deutschland alle dreieinhalb Tage verdoppelt. Die wirtschaftliche Situation war katastrophal: Die bislang von der Inflation noch unterstützte Konjunktur kam zum Erliegen, die zuvor kaum vorhandene Arbeitslosigkeit stieg steil an, die Mark hatte ihre Funktionalität weitgehend eingebüßt. Damit war die Zeit reif für eine radikale Währungsreform.

Im Rückblick wird deutlich, dass die Inflation, selbst die Hyperinflation, nicht Ausdruck ökonomischer Zwangsläufigkeit war, kein unvermeidliches Gesetz, sondern das Resultat des finanz- und geldpolitischen Handelns von Staat und Reichsbank, welches ökonomischen Interessen folgte. An dieser Stelle beginnen die Parallelen zur gegenwärtigen Inflation. Denn auch heute folgt die Finanz- und Geldpolitik bestimmten ökonomischen Interessen. Wieder gibt es nicht nur Inflationsverlierer, sondern, ebenso wie schon 1923, große und kleine Inflationsgewinner. Die Parallelen erstrecken sich sogar bis ins Detail. So stellte der Beschluss der Reichsregierung, die Kosten für den Krieg 1914 bis 1918 nicht über Steuererhöhungen aufzubringen, sondern im Wesentlichen über Kredite und die Ausdehnung der öffentliche Verschuldung, eine bewusste Entscheidung pro Inflation dar. Dies galt erst recht für die Nachkriegszeit, als die Folgekosten des verlorenen Krieges über die Inflation auf die Gläubiger, also die Sparer, Pensionäre, Rentiers, Beamten und die Lohnabhängigen umgewälzt wurden, während die Schuldner, also vor allem der Staat, Großunternehmen, Großagrarier und viele Landwirte sowie die Spekulanten, sich durch die Inflation „billig“ entschulden konnten und darüber hinaus noch prächtig verdienten. Heute ist es nicht viel anders, nur die Dimensionen sind nicht ganz dieselben: Sonderausgaben, zum Beispiel für die Rüstung, werden über Sondervermögen (soll wie das Gegenteil dessen klingen, worum es sich tatsächlich handelt: staatliche Schulden zulasten aller Steuerzahler) finanziert, nicht aber über zusätzliche Steuern, etwa für Besserverdienende oder auf Vermögen und Erbschaften. Und die größten Verlierer der Inflation sind auch wieder die Sparer, die Bezieher fester Einkommen, die Selbständigen, die Rentner und die Lohnabhängigen am unteren Ende der Einkommensskala, während Großunternehmen, Großaktionäre, Besitzer von Mietimmobilien und Spekulanten die Inflation wie eine Badekur genießen. Wenn die Inflationsraten trotzdem bald zurückgehen werden, so ist dies allein der konjunkturellen Flaute und beginnenden Rezession zuzuschreiben, kaum aber der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Die hat in Sachen Inflation zu spät reagiert und ihr Handeln war zudem halbherzig.