26. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2023

Die Kunst der Diplomatie

Schweigen ist ein wahrer Freund,
der niemals verrät.

Konfuzius

von Detlef Jena

Deutsche Politiker, die sich der Diplomatie mächtig glauben und gegenwärtig bis nach China reisen, sollten achtsam sein. Sie können sich selbst im alleinigen Vollbesitz der Menschenrechte nicht mehr darauf berufen, dass die mongolischen Krieger unter Dschingis Khan um 1220 bis in die Ukraine vorgestoßen sind und die Russen an der Kalka geschlagen haben, während Europa zitterte. Da hilft auch kein im Plural malträtiertes feministisches Motto „Ich habe deutlich gemacht …“. Chinas zartes Porzellan verträgt ebenso wenig trampelnde Elefantenfüße.

Der deutsche Versuch, im Reich der Mitte Menschenrechte „anmahnen“ zu wollen, erinnert die dortigen Mächtigen an das koloniale „Germans to the front!“ aus der Zeit des Boxer-Aufstands im 19. Jahrhundert, als Kaiser Wilhelm II. mit seiner „Hunnenrede“ zur Massakrierung der Chinesen aufrief. Gutwillige chinesische Konfuzianer lächeln allenfalls höflich und verweisen vielleicht diplomatisch auf Altkanzler Helmut Schmidt, der meinte, dass Menschenrechte in der Politik stets wirtschaftlichen Interessen weichen. Politiker mit lediglich sie selbst umschmeichelnden moralischen Prinzipien sollten besser einen Psychiater aufsuchen, hat er einst so etwa gesagt.

Diplomat sein heißt, die eigenen politischen Interessen äußerst diskret, höflich, geschickt und mit wohlerzogenem Benehmen durchzusetzen. Da waren sogar die brutal feindseligen Kontrahenten am Ende des Dreißigjährigen Kriegs 1648 bei der Aushandlung des Westfälischen Friedens oder nach dem Siebenjährigen Krieg im 18. Jahrhundert weiter.

Es ist zwar unpädagogisch, aber wenn die erfolgreichen Beispiele aus der Geschichte partout nicht fruchten, muss man halt mit grobem Geschütz auffahren. Weil viele europäische Politiker derzeit nichts sehnlicher wünschen, als eine siegreich befriedete Ukraine mit viel Geld und reichlich Kanonen selbst als politische Terra incognita in ihre segensreichen Arme zu schließen, können einige Exempel aus der russischen Diplomatie hilfreich demonstrieren, was man in dieser Profession alles falsch machen kann, um selbst unvermeidliche Vertragspartner auf die politische Palme zu bringen.

Im Jahre 1667 schickte beispielsweise Russlands Zar Alexej Michailowitsch Romanow den Adligen Pjotr Potjomkin als Gesandten nach Spanien und Frankreich. Im selben Jahr erweiterte Moskau durch den Waffenstillstand von Andrussowo mit Polen sein Territorium um die links des Dnjepr liegende Ukraine und gewann Kiew hinzu. 1667 begann an der Wolga und im Ural auch der Aufstand der Donkosaken unter Führung Stepan Rasins. Vier Jahre währten die blutigen Unruhen. In diesen Jahren betraute der Zar Potjomkin mit weiteren Sondermissionen in Wien, London und Kopenhagen. Potjomkin war ein Diplomat, der seinen Herrscher mit Selbstbewusstsein im Ausland theatralisch effektvoll vertrat. Mit seinen Eskapaden kaschierte er zugleich das Manko, aus dem niederen Dienstadel zu stammen und eigentlich nicht zur politisch herrschenden Klasse zu gehören. Er schlüpfte quasi von der grünen Wiese seines Landguts in die schillernden Paläste der höchsten Macht. Das verwirrte ihn offenbar. Und das ließen ihn die Majestäten auch spüren, wenn er vorlaut und anmaßend gegenüber den jeweiligen Landessitten auftrat. Den spanischen König Karl II. soll Potjomkin veranlasst haben, jedes Mal, wenn bei offiziellen Empfängen der Name des Zaren genannt wurde, den Hut zu lüften. Diese Art der Ehrenbezeugung erscheint der Nachwelt vielleicht zu anekdotenhaft. Aber die Episode gewinnt an Glaubwürdigkeit, wenn man bedenkt, dass König Karl damals gerade erst sechs Jahre alt und durch exotische Diplomaten sicherlich noch relativ leicht beeinflussbar war. Einen weisen chinesischen Mandarin hätte Potjomkin damit nicht für wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit gewinnen können.

An der spanisch-französischen Grenze soll sich Potjomkin geweigert haben, für seine edelsteinbesetzten Gewänder den festgelegten Zoll zu entrichten. Es wird berichtet, er habe den Zöllner als „verfluchten Hund“ beschimpft – bevor er ihm das geforderte Geld vor die Füße warf. Das aufwendige Make-up des Gesandten musste übrigens nicht verzollt werden.

Der Sonnenkönig gab sich in Frankreich alle Mühe, den polternden Russen so freundlich wie möglich zu stimmen. Der aber dankte mit neuerlichen Grobheiten. Auch in Frankreich fühlte er seinen Zaren respektlos behandelt, brach die Gespräche ab und verweigerte die Annahme einer königlichen Botschaft, weil sich bei den offiziellen Zarentiteln in der Anrede ein belangloser Formfehler eingeschlichen hatte. Es ging eben um ein abstraktes Prinzip, kombiniert mit kleinkarierter Besserwisserei – bei der Entscheidung über Krieg und Frieden.

Da Russland sich schon in jenen Jahren bemühte, gleichberechtigt in das europäische Mächtekonzert aufgenommen zu werden – der Erste Nordische Krieg gegen Polen und Schweden war 1660 zu Ende gegangen – konnte der Gesandte keinen „schwerwiegenden“ Fehler gegenüber der geheiligten Würde des Zaren stillschweigend hinnehmen. Beschwichtigende Kompromissversuche prallten an seinen Prinzipien und sterilen Umgangsformen ab.

Eine weitere Peinlichkeit ereignete sich in Kopenhagen. König Christian V. lag krank zu Bett. Er wollte den russischen Emissär dennoch empfangen. Der verlangte nach einem zweiten Bett im Schlafgemach des Königs. Als Gesandter des großen Zaren wollte er mit Dänemarks König nur von gleich zu gleich verhandeln. Das merkwürdige Ansinnen wurde mit Respekt erfüllt und die Herrschaften konferierten von Bett zu Bett! Pjotr Potjomkin verhielt sich nicht besonders zimperlich. In Westeuropa erhielten die gekrönten Häupter, Politiker und Diplomaten einen kleinen Vorgeschmack auf die künftigen Visiten eines sich europäisch mutierenden Herrschers vom Schlage Peters des Großen. Doch ebenso wie Deutschlands großer Geist Goethe sind auch die wirklich brillanten Diplomaten in der Weltgeschichte eine kaum imitierbare Rarität.

Also: Diplomaten aller Länder vereinigt euch und versucht, die historische Größe des wunderbarsten und zugleich skrupellosen Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754-1838) aus Frankreich zu erklimmen! Der hat niemals zu den agitatorischen „Deutlichmachern“ in der Öffentlichkeit gehört. Er besaß die Größe, den jeweils siegreichen Gegner oder Feind von Herzen zu beglückwünschen – um selbst als Unterlegener den Hauptgewinn aus der Fehde einzustecken. Talleyrand vollbrachte auf dem Wiener Kongress 1814/15 das Meisterstück seines schillernden Lebens. Dort mündete der Streit um Europas Neuordnung in einen Machtkampf zwischen Russland, Preußen, England und Österreich um die fette französische Beute. Talleyrand trat nicht wie ein gedemütigter Verlierer auf, sondern als der wahre Sieger der Kriege. Er erkannte, dass der einzige ebenbürtige Gegner im diplomatischen Schachspiel Österreichs gewiefter Kanzler Fürst Clemens Wenzeslaus von Metternich (1773-1859) war. Die Herren verbündeten sich miteinander, weil sie beide den geschlagenen Napoleon weniger fürchteten als das siegreiche Russland. Die Kosaken tränkten ihre Pferde noch immer in der Seine! Und Zar Alexander I. tönte provozierend: „Ich bin in Polen, wir wollen einmal sehen, wer mich von dort vertreibt.“ Diesen Zankapfel konnten die beiden ungleichen Brüder geschickt mit Preußens Anspruch kombinieren, Sachsen zu schlucken. Sie umgarnten den englischen Lord Castlereagh und prompt arrangierten sich London, Paris und Wien: Sachsen blieb unter Opfern als Puffer zwischen Preußen und Österreich erhalten. Preußen bekam keinen Fußbreit Land von Frankreich! Talleyrand lächelte zufrieden und meldete seinem König Ludwig XVIII. nach Paris: „Frankreich ist in Europa nicht nur nicht isoliert, sondern Eure Majestät sind Teilnehmer eines Systems von Bündnissen, das auch fünfzig Jahre Verhandlungen nicht hätten zustande bringen können.“ So geht das königliche Schachspiel der Diplomatie.