26. Jahrgang | Nummer 9 | 24. April 2023

Frühe Nietzsche-Kritik

von Ulrich Busch

Der Philosoph, Kulturkritiker, Altphilologe und Publizist Friedrich Nietzsche gehört seit eh und je zu den umstrittensten Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens. Anfangs wenig beachtet stieg nach seiner geistigen Umnachtung (1889) das Interesse an seinen Ideen und Büchern sprunghaft an. Während er in Naumburg und Weimar dahinsiechte, entfaltete sich um sein Werk und seine Person ein regelrechter Kult.

Parallel dazu meldeten sich frühzeitig Kritiker zu Wort, so dass bereits zu Lebzeiten des Philosophen heftig über dessen Bedeutung und Sendung gestritten wurde. Die Kontroverse eskalierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts und während des Ersten Weltkriegs, als konservative Kreise den Philosophen für sich entdeckten. Schließlich trug die Aufnahme Nietzsches in die Ahnenreihe der Nationalsozialisten dazu bei, die bis heute ungebrochene Popularität des Philosophen als Protagonist „rechten“ Denkens zu verstärken.

Mit dem Sieg des Neoliberalismus Ende der 1970er Jahre und dem Eintritt der bürgerlichen Gesellschaft in eine rechtskonservative Entwicklung, erhielt der Nietzsche-Kult einen neuen Schub. Mit diesem aber auch die Nietzsche-Kritik und der differenzierte historisch-kritische Umgang mit seinem Werk sowie der vermeintlichen wie tatsächlichen verhängnisvollen Wirkungsmacht seiner Ideen.

Man kennt die harschen Kritiken an Nietzsche, etwa von Hans Günther, Georg Lukács und Wolfgang Harich. Mancher hat vielleicht auch die Arbeiten von Theodor Lessing und Otto Flake gelesen oder kennt die kritischen Reflexionen über Nietzsches Werk von Steven E. Aschheim, Hans Kaufmann, S. F.  Oduev, Rüdiger Safranski, Bernhard Taureck, Friedrich Tomberg, Hans-Martin Gerlach, Volker Caysa und Heinz Malorny.

Aber wer kennt schon die frühen Nietzsche-Kritiken von Ferdinand Tönnies, Georg Adler, Eduard von Hartmann, Eduard Bernstein, Franz Mehring, Kurt Eisner, Friedrich Jodl oder Paul Ernst? – Es ist das große Verdienst von Andreas Heyer, Jahrgang 1974, diese Texte aus der Zeit von 1889 bis 1905 vor dem Vergessen bewahrt und einem interessierten Leserkreis wieder zugänglich gemacht zu haben. Er konnte sich dabei auf ein Projekt aus den 1980er Jahren von Wolfgang Harich berufen, der, von der SED-Führung aufgefordert, eine Nietzsche-Kritik zu verfassen, stattdessen vorgeschlagen hatte, die bereits vorhandenen Kritiken in einem Buch zusammenzufassen und zu publizieren. Das Vorhaben kam damals nicht zur Ausführung, wurde jetzt aber in erweiterter Gestalt und ergänzt um eine Reihe eigener Aufsätze von Andreas Heyer realisiert. Insgesamt umfasst die Edition 26 Texte, die größtenteils noch zu Lebzeiten Nietzsches, also vor Erstem Weltkrieg und Faschismus und lange bevor Nietzsches Ideen in den postfaschistischen Streit „linker“ und „rechter“ Ideologien gerieten, publiziert worden sind.

Doch es geht bei dieser auf insgesamt vier Bände angelegten Edition nicht nur um die Wiederentdeckung und Bewahrung halbvergessener Texte. Ihre Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt soll auch einen Kontrapunkt gegenüber dem „neuen Nietzsche-Kult“ setzen. Mit ihr eröffnet der Herausgeber eine Gegenoffensive zur gegenwärtig zu beobachtenden Praxis, Nietzsche zu entpolitisieren und ihn als unpolitischen Ästheten, Aphoristiker, Stilisten und Literaten zu offerieren. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass einige der heutigen Nietzsche-Interpreten Lukács und Harich vorwerfen, nur den politischen Nietzsche betrachtet zu haben. Nietzsche sei jedoch sehr viel mehr gewesen, und seine Bedeutung für die Kulturkritik, Philosophie und Ästhetik würde durch die einseitige Betrachtung, wie sie diesen Kritikern eigen sei, unterschätzt. Dies mag teilweise zutreffen. Die Analyse der frühen Nietzsche-Kritik zeigt indes, dass ihre Verfasser durchaus begriffen hatten, welches die wesentlichen Botschaften Nietzsches waren: eine radikale Zeitkritik, die Zertrümmerung „ewiger“ Wahrheiten, Demokratie-Kritik, ein dezidierter Anti-Moralismus, Anti-Modernismus und Anti-Humanismus.

Daneben gibt es in dem umfänglichen Werk des Philosophen natürlich auch andere Seiten, etwa künstlerische, poetische, ästhetische, literarische, psychologische. Konzentriert sich die Interpretation jedoch allein auf diese und vernachlässigt gleichzeitig die politischen Aussagen, Absichten und Intentionen Nietzsches, so wird sie ihm kaum gerecht. Zugleich, so betont Heyer, müsse Nietzsche heute unbedingt „vor dem Hintergrund der Kenntnis der Verwerfungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts“ gelesen werden. Die Heranziehung der frühen Kritiken seiner Ideen kann helfen, hier zu einem ausgewogeneren Urteil als bisher und zu einer historisch-kritischen Gesamtsicht des Philosophen und seiner Schriften zu kommen, wie sie in der Forschung anzustreben ist.

Der vorliegende Erste Band der Edition präsentiert acht Texte, deren Autoren den Einfluss Nietzsches auf den Zeitgeist und das Kulturleben kritisch beleuchten. Neben liberalen und „linken“ Stimmen sind auch „rechte“ Töne zu vernehmen. In dem Band finden sich zudem eine Vorbemerkung sowie zwei längere Aufsätze des Herausgebers über „die frühen Nietzsche-Kritiken als Gegenpol zur heutigen Zeit“ sowie ein „Forschungsüberblick“ zur neueren Literatur über den politischen Nietzsche, seine Rezeption in der DDR und die Nietzsche-Debatte der 1980er Jahre. Insbesondere letzterer Aufsatz bietet auf 84 Seiten sehr viel Material und durchaus erhellende Einblicke in den „neuen Nietzsche-Kult“.

Zugleich ist Heyers Text allerdings nicht frei von Polemik, persönlichen Attacken des Autors und Versuchen, mit anderen Nietzsche-Forschern politisch abzurechnen. Sollte, so ist zu fragen, der Grundsatz derartiger Ausführungen nicht sine ira et studio lauten? – Nietzsche selbst allerdings ist wahrlich kein Vorbild für einen fairen wissenschaftlichen Dialog. Damals nicht und heute noch viel weniger!

 

Andreas Heyer (Hrsg.): Kleine Bibliothek der frühen Nietzsche-Kritik (1889-1905), Band 1: Feuilletonistische Warnungen vor Nietzsche, Verlag Dr. Kovač, Hamburg 2022, 264 Seiten, 64,80 Euro.