„Wir haben uns sofort auf die Verbesserung
der Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten
[BRD und Sowjetunion – W.S.] konzentriert
und ideologische Fragen ausgeklammert.“
Egon Bahr,
2015, in einem Rückblick
auf die Anfänge der Neuen Ostpolitik
Im vergangenen Jahr hatte der SPD-Ko-Vorsitzende Lars Klingbeil mit zwei Grundsatzreden – gehalten am 21.06. sowie am 18.10.2022 – die außen- und sicherheitspolitische Neuausrichtung seiner Partei sowohl angemahnt als auch eingeläutet. Ein strategischer Schwerpunkt dabei – die künftige Politik gegenüber Russland. Was Klingbeil diesbezüglich als seine Grundgedanken formulierte, warf grundsätzliche Fragen auf (siehe dazu ausführlicher Blättchen 18/2022 und Blättchen 23/2022).
Am 20. Januar 2023 hat die Kommission Internationale Politik der SPD mit einem Papier – betitelt „Sozialdemokratische Antworten auf eine Welt im Umbruch“ – nachgelegt. Damit ist die Selbstbefragung und künftige Positionierung zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik der Partei zwar nicht abgeschlossen, denn darüber soll erst ein Parteitag im Dezember dieses Jahres entscheiden. Doch eines darf mit Blick auf die Russlandpolitik jetzt schon befürchtet werden: Ein Aufbruch zu neuen Ufern, gar ein großer strategischer Wurf à la Tutzing 1963 ist nicht zu erwarten. Eher schon ein Rückfall in Stereotype, wie sie den ersten Kalten Krieg geprägt hatten.
Erinnern wir uns. Die konfrontative Linie der Bundesrepublik gegenüber der DDR seit Gründung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1949 – unter dem Label Wiedervereinigungspolitik – lief im Kern darauf hinaus, die staatliche Existenz der DDR zu leugnen und mit stetigen Aktivitäten zur wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung das verhasste SED-Regime zu beseitigen. Diese Politik erlitt mit dem Mauerbau 1961 eine krachende Niederlage. Damit wurde exponierten kalten Kriegern, darunter Willy Brandt und Egon Bahr, zugleich nachdrücklich vor Augen geführt, dass die Westmächte im Falle des Falles militärisch keinen Finger zur Durchsetzung des Bonner Kurses rühren würden. Einen kriegerischen Zusammenprall mit Moskau wollten sie keinesfalls riskieren. Dafür ließen sich Washington, Paris und London seinerzeit von der DDR sogar ihre verbrieften alliierten Zugangsrechte von Westberlin in den Osten beschneiden.
Zu den ganz wenigen, die damals nicht bloß schäumten, sondern die Niederlage nüchtern analysierten, zu deren Ursachen vordrangen und daraus – heute würde man sagen: innovative – Schlussfolgerungen ableiteten, gehörten Bahr und Brandt. Zwei Jahre später, am 15. Juli 1963, hielt ersterer seine berühmte Tutzinger Rede (nachzulesen im Blättchen 14/2013). Darin meldete er zunächst „Zweifel“ an, „ob wir mit der Fortsetzung unserer bisherigen Haltung das absolut negative Ergebnis der Wiedervereinigungspolitik ändern können“. Anders ausgedrückt: Konfrontation war gescheitert. Es folgten Erkenntnisse wie:
- „Die Voraussetzungen zur Wiedervereinigung sind nur mit der Sowjet-Union zu schaffen. […] nicht gegen die Sowjet-Union, nicht ohne sie.“
- Eine Überwindung des Status quo erfordere, dass „der Status quo zunächst nicht verändert werden soll“. Das klinge „paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zur Erstarrung des Status quo geführt hat“.
- Die „erste Folgerung“ sei, „daß die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet“.
Hernach berief sich Bahr noch auf Kennedy, der gesagt habe, „daß man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse“, um in der Quintessenz eine Politik vorzuschlagen, „die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung“. Das konnte man als Plädoyer für Kooperation statt Konfrontation verstehen, wie sich spätestens ab 1969 zeigte, als eine neue, von Willy Brandt geführte Bundesregierung begann, die Bahrsche Formel als Neue Ostpolitik zu materialisieren. Und zwar nicht obwohl Moskau 1968 den Prager Frühling brutal niedergewalzt hatte, sondern eher gerade auch deswegen – um einen Hebel gegen die immer weitere Verhärtung des Status quo zu schaffen.
Und nun zum eingangs erwähnten Papier der Kommission Internationale Politik der SPD. Darin wird mit Blick auf Moskau apodiktisch postuliert: „Klar ist: Solange sich in Russland nichts fundamental ändert, wird die Sicherheit Europas vor Russland organisiert werden müssen.“ Ebenso klar ist allerdings auch, dass es mit einem derartigen, ultimativen Ansatz – Alles oder Nichts! – die Erfolge der Neuen Ostpolitik in Gestalt der Verträge der BRD mit Moskau, Warschau, Ostberlin und Prag ebenso wenig gegeben hätte wie die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und die damit entstehenden Voraussetzungen dafür, dass der Ostblock sich schließlich friedlich von der Weltbühne verabschiedete und nicht mit einem finalen großen Knall.
Diese Dialektik wird jedoch von der heutigen SPD-Führung offenbar nicht mehr verstanden. Und mit dem Verständnis hapert es auch in weiteren grundlegenden Zusammenhängen:
- In dem SPD-Papier heißt es: „Einige Länder Europas und vor allem Deutschland haben zu lange ausschließlich auf eine kooperative Zukunft mit Russland gesetzt und dabei versäumt, Szenarien für einen anderen Umgang mit Russland zu entwickeln. Dies wäre nach der russischen Invasion in Georgien, spätestens aber nach der Annexion der Krim 2014 dringend erforderlich gewesen.“ Und: „Die Realität heute ist die Zeitenwende – definiert durch den 24. Februar und den brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine.“ (Klingbeil, 18.10.2022) Wer die eigene Fehleranalyse dermaßen verkürzt und den Beginn der Gegenwart vergleichbar kurzschlüssig verortet, der verweigert sich nolens volens oder schlicht vorsätzlich der Erkenntnis, worin der Kardinalfehler der Russlandpolitik nicht nur der SPD, sondern praktisch des gesamten Westens nach dem Ende des Kalten Krieges bestanden hat: die Chance zum Aufbau eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems unter Einschluss Russlands (wie im Übrigen auch der USA und Kanadas), dessen Grundlage mit der Charta von Paris (1990) gelegt worden war, nicht genutzt zu haben. Washington wollte das nicht, und auch vom damaligen Westeuropa aus (eine SPD-geführte Bundesregierung – 1998 bis 2005 – eingeschlossen) wurden keine entsprechenden Initiativen ergriffen. Heute zu behaupten, ein solches Unterfangen sei angesichts der chaotischen Entwicklungen in Russland in den Herrschaftsjahren des damaligen Präsidenten Jelzin (bis 1999) nicht möglich gewesen, ist wohlfeil. Es ist einfach nicht versucht worden.
- Dem Postulat, dass Europas Sicherheit vor (meint gegen) Russland organisiert werden müsse, ist in dem SPD-Papier überdies das Bekenntnis zu den „militärischen Fähigkeiten unserer Sicherheits- und Verteidigungsbündnisse“ als Mittel „einer wirkungsvollen Friedenspolitik“ und zum Ziel der NATO, grundsätzlich zwei Prozent des BIP ins Militär zu investieren, beigegeben. Dabei wusste man am Ende des ersten Kalten Krieges nun wirklich schon, dass sich Sicherheit gegen eine Atommacht wie Russland nicht „errüsten“ und schon gar nicht in militärischer Konfrontation gewährleisten lässt. Das Ergebnis ist bestenfalls ein gleiches Niveau an Unsicherheit für beide Seiten, gern auch als gegenseitige Abschreckung apostrophiert und immer unter dem Damoklesschwert des Risikos einer kriegerischen Auseinandersetzung, die atomar eskalieren kann – mit final-fatalen Folgen für Europa und darüber hinaus.
Vielleicht hätten die Verfasser des jetzigen SPD-Papiers einfach mal im Palme-Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit von 1982 (Mitverfasser: Egon Bahr) blättern sollen. Dann wären sie auf dieses gestoßen: „Sollte ein Atomkrieg ausbrechen, wäre allen Nationen das gemeinsame Schicksal der Vernichtung beschieden. Die Anerkennung dieser wechselseitigen Abhängigkeit bedeutet, daß die Nationen damit beginnen müssen, ihre Sicherheitspolitik in gemeinsamer Zusammenarbeit festzulegen. […] Vertrauen auf gemeinsame Sicherheit als Organisationsprinzip für Bemühungen, die Kriegsgefahr zu verringern, die Waffensysteme zu begrenzen und auf eine Abrüstung hinzuarbeiten, bedeutet im Grunde, daß bei der Lösung von Interessenkonflikten Kooperation an die Stelle von Konfrontation tritt.“
Und was Bahr 1963 mit Blick auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit gesagt hatte, gilt heute und künftig bezüglich der Herstellung einer stabilen gesamteuropäischen Friedensordnung – eine solche kann nur gemeinsam mit Russland geschaffen werden, nicht gegen und auch nicht ohne den größten europäischen Staat. Allein schon deshalb, weil ein feindseliges Russland allemal über ein Kernwaffenarsenal verfügt, durch das der Kontinent gegebenenfalls irreparabel zerstört werden könnte.
In Sachen Russlandpolitik bestätigt das aktuelle Papier der Kommission Internationale Politik der SPD den fatalen Eindruck, dass sich die von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende offenbar tatsächlich auf Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet, dauerhaft verstärkte Aufrüstung Deutschlands und der NATO sowie die Rückkehr zu den Ritualen des ersten Kalten Krieges beschränken soll. Es sei denn, Moskau gibt klein bei.
Wie dieser Ansatz mit dem Anspruch, „die Welt friedlicher, gerechter, feministischer und zukunftssicherer zu machen“ (O-Ton SPD-Papier), zusammengehen soll, bleibt das Geheimnis seiner Verfasser.
Schlagwörter: Egon Bahr, gemeinsame Sicherheit, Konfrontation, Kooperation, neue Ostpolitik, Russland, Russlandpolitik, SPD, Wolfgang Schwarz