Die verschiedenen Aktivitäten beim G20-Gipfel auf Bali (15./16. November 2022) haben gezeigt, dass es ein dringendes Bedürfnis gibt, den ukrainischen Krieg Russlands zu beenden und zunächst einzuhegen. Eine offene Unterstützung Russlands hat es in Bali nicht gegeben. In der Schlusserklärung der zwanzig Staaten wurde vermerkt, dass zu „diesem Thema ein Austausch“ stattfand. Dazu hieß es dann: „Wir bekräftigten unsere nationalen Positionen, wie wir sie in anderen Foren zum Ausdruck gebracht haben, darunter im UN-Sicherheitsrat und in der UNO-Vollversammlung.“ Der russische Außenminister Sergej Lawrow, der Präsident Putin zu vertreten hatte, murmelte nach dem Gipfel, damit würde Russland leben können, weil seine unterschiedlichen Positionen, die vor dem UNO-Sicherheitsrat und der Vollversammlung erklärt wurden, hier berücksichtigt seien. Diplomatisch betrachtet eine sehr schwache Position, eher eine Ausrede.
Bereits vor dem Gipfel, am 14. November, hatten sich der chinesische Präsident Xi Jinping und US-Präsident Joe Biden in Bali getroffen. Xi hatte betont, beide Seiten sollten „die bilateralen Beziehungen wieder auf den Weg einer gesunden und stabilen Entwicklung bringen“. Biden erklärte, beide Länder befänden sich nicht im Konflikt, sondern im Wettbewerb. Xi hatte Biden deutlich gemacht, dass China keine militärischen Absichten in Bezug auf Taiwan hege, solange die „Ein-China-Politik“ fortgesetzt werde, und Biden genau dies zugesichert. Das Weiße Haus ließ dann erklären, beide hätten auch über den Ukraine-Krieg gesprochen und ihre Ablehnung „gegen den Einsatz von oder die Drohung mit Atomwaffen in der Ukraine“ bekräftigt.
So war der Weg offen für eine klare Bali-Erklärung: „Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine auf das Schärfste und betonten, dass er immenses menschliches Leid verursacht und bestehende Verwundbarkeiten der Weltwirtschaft verstärkt.“ Entscheidend sei, „Völkerrecht und das multilaterale System zur Gewährleistung von Frieden und Stabilität zu wahren“. Und schließlich: „Der Einsatz und die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen ist unzulässig. Entscheidend sind die friedliche Konfliktbeilegung, Bemühungen zur Krisenbewältigung sowie Diplomatie und Dialog.“
In etlichen Kommentaren hiesiger Großmedien wurde so getan, als habe China hier ein Zugeständnis an den Westen gemacht. Das ist falsch. China hat lediglich seine Grundpositionen bekräftigt. Die fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, zugleich die „offiziellen“ Atommächte – China, Frankreich, Russland, Großbritannien und die USA – veröffentlichten am 3. Januar 2022 eine Gemeinsame Erklärung, dass sie die Vermeidung eines Krieges zwischen Atomwaffenstaaten und die Verringerung der strategischen Risiken als ihre wichtigste Aufgabe ansehen: „Wir bekräftigen, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf. Da der Einsatz von Atomwaffen weitreichende Folgen hätte, bekräftigen wir auch, dass Atomwaffen – solange sie existieren – der Verteidigung, der Abschreckung von Aggressionen und der Kriegsverhütung dienen sollten. Wir sind der festen Überzeugung, dass die weitere Verbreitung solcher Waffen verhindert werden muss.“
Das war zunächst Bekräftigung einer Erklärung der Präsidenten der USA und Russlands, Biden und Putin, vom Juni 2021: „ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf deshalb niemals geführt werden“, die ihrerseits eine Grundsatzposition von Reagan und Gorbatschow vom Ende des Kalten Krieges wieder aufnahm, durch alle fünf offiziellen Atomwaffenmächte. China hatte sich an Verhandlungen über atomare Mittelstreckenraketen sowie die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen nicht beteiligt.
Für die eigene Verteidigungspolitik hatte China in seinen Weißbüchern von 2015 und 2019 festgelegt, es werde niemanden angreifen; wird das Land jedoch angegriffen, werde es „entschieden zurückschlagen“. Dabei werde China unter keinen Umständen als erstes Atomwaffen einsetzen und Nicht-Nuklear-Staaten damit auch nicht drohen. Insofern hat China jetzt nur bestätigt, was ohnehin seine Position war.
Auch in Bezug auf Indien wurde gemutmaßt, die Zustimmung zu der Bali-Erklärung sei bemerkenswert. Hier wurde ebenfalls nur bekräftigt, was schon immer die indische Grundposition war. Die Konferenz in der indonesischen Stadt Bandung von 1955, an der 23 asiatische und 6 afrikanische Staaten (in Afrika hatte die Entkolonialisierung gerade erst begonnen) teilnahmen, darunter Indonesien, China und Indien, hatte Prinzipien zur „Förderung des Weltfriedens und der Zusammenarbeit“ beschlossen. Hier waren die Achtung der fundamentalen Menschenrechte und der Ziele und Grundsätze der UN-Charta sowie die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität aller Nationen beziehungsweise Staaten grundlegend. Russland hat sich mit dem Ukraine-Krieg in Gegensatz auch zu jenen Prinzipien gestellt.
Insofern war bisher eher erstaunlich, dass Indien sich unmittelbar und im Rahmen des BRICS-Verbundes mit öffentlicher Kritik an Russland zurückgehalten hat. Das wurde in westlichen Medien vorwiegend damit erklärt, dass Indien schon mit der Sowjetunion stets enge Beziehungen hatte und auch heute seine Waffen vor allem aus Russland bezieht. Hier wird medial unterschlagen: Das machen die indischen Verantwortlichen seit der Unabhängigkeitserklärung 1947 und dem ersten Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru so, weil sie eben nicht vom Westen abhängig sein wollen, schon gar nicht militärisch.
Zugleich ist auf ein historisches Phänomen zu verweisen. Zu den Hinterlassenschaften der britischen Kolonialherrschaft gehörte, dass nach dem alten römischen Prinzip „Teile und herrsche!“ die indische Bevölkerung seit Anfang des 20. Jahrhunderts immer stärker nach religiösen Kriterien geteilt wurde. Einwohner aus durchmischten Gesellschaften, die religiös, sprachlich und kulturell jahrhundertelang miteinander ausgekommen waren, wurden nun unterschiedlich behandelt und besteuert, erhielten unterschiedliche Vertretungskörperschaften. Die indische Kongresspartei wollte die Unabhängigkeit Indiens im Rahmen der gesamten Kronkolonie „Britisch-Indien“ erreichen. Die Briten forcierten die Eigenwilligkeit der Muslimliga jedoch so lange, bis diese die Schaffung einer eigenständigen „muslimischen Nation“ in Indien forderte. Am Ende wurde die Kronkolonie in zwei Staaten geteilt, Indien und Pakistan, das damals aus zwei, voneinander getrennten Landesteilen bestand, Westpakistan, dem heutigen Pakistan, und Ostpakistan, heute Bangladesch. So war die Unabhängigkeit mit der Aufteilung des Landes und vielerorts mit einer Auflösung der vielgestaltigen Gemeinschaften verbunden, die in bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen erfolgte. Historiker schätzen, dabei kam eine Million Menschen ums Leben, 20 Millionen Menschen wurden vertrieben, deportiert oder umgesiedelt.
Indien und Pakistan sind bis heute zutiefst verfeindet. Beide Staaten haben bis 1971 drei große Kriege gegeneinander geführt; mehrere „kleinere“ Kriege, vor allem im Norden, in Kaschmir, kommen bis heute hinzu. Da beide inzwischen über Atomwaffen verfügen, würde ein nächster „großer“ Krieg mit diesen Waffen ausgetragen werden.
Betrachtet man nun Pakistan als ein vom Westen errichtetes „Anti-Indien“, nur dazu geschaffen, Indien außenpolitisch Schwierigkeiten zu machen, dürfte ein Vorgehen Russlands gegen ein „Anti-Russland“ in Gestalt der Ukraine, selbst wenn dies militärisch erfolgt, in Indiens „politischer Klasse“ klammheimliches Verständnis finden. Zumal sich Indien, das seit Mahatma Gandhi stets mit Gewaltlosigkeit identifiziert wird, von Anfang an nie gescheut hat, in seinem Umfeld auch militärische Gewalt anzuwenden. Der einzige Krieg, den Indien nicht gewonnen hat, war der um die Grenze zu China im Himalaya im Jahre 1962. In die seit dem 16. Jahrhundert bestehende portugiesische Kolonie Goa hatte Nehru 1961 kurzerhand indische Truppen einmarschieren lassen. Die Entkolonialisierung dauerte 26 Stunden, und all die Querelen, die China bis heute mit der früheren britischen Kolonie Hongkong hat, blieben Indien erspart. Die indischen Generäle, Admirale und Air-Marshals, die ihre Kriege siegreich für Indien entschieden haben, dürften jetzt eher erstaunt sein, wie sich der russische Krieg in der Ukraine in die Länge zieht.
Die BRICS-Staaten gingen offenbar zunächst davon aus, dass ein kurzer, siegreicher Krieg Russlands in der Ukraine die offensichtliche Schwächung der globalen Positionen des Westens und die Schaffung einer post-westlichen Weltordnung beschleunigen werde. Jetzt stellt sich der Ukraine-Krieg dabei eher als Belastung dar. Insofern planen die anderen jetzt offensichtlich ohne Russland. Die G20 bleibt dabei politisch-diplomatisch zunächst in BRICS-Hand: Der Gipfel 2023 findet in Indien statt, 2024 in Brasilien – unter Lula wird das Land gewiss wieder Weltpolitik machen – und 2025 in Südafrika.
Schlagwörter: Atomwaffen, BRICS, China, Erhard Crome, G20, Indien