Das ukrainische Lied ist Nikolai Gogols Leitmotiv. Nirgends erklingt es schöner als in den Erzählungen der „Abende auf dem Vorwerk von Dikanka“. Diese meisterhafte Prosa strömt dahin wie ein nie endender abendlicher Gesang. Er beschwört die Geister des dörflichen Volksgemüts, die blühende Landschaften der ukrainischen Steppe und ihren Liebeszauber, der die Welt verwandelt und zu dem dem Alkoholdunst entstiegene Teufelsgestalten einen verwirrenden Tanz aufführen. Gogol beschreibt eine verschwundene Welt, die Wunderwelt der kleinen Leute: „Das hellklingende Lied ergoß sich wie ein Strom durch die Straßen des Kirchdorfes. Es war um die Stunde, wo die von den Mühen und Sorgen des Tages ermüdeten Burschen und Mädchen sich lärmend im Kreise versammeln, um im heiteren Glanze des Abends ihre Freude in Tönen zu ergießen, die stets auch von Trauer begleitet sind. Der verträumte Abend umfing nachdenklich den blauen Himmel und verwandelte alles in Ungewißheit und Ferne. Schon war die Dämmerung angebrochen, die Lieder wollten aber immer noch nicht verstummen. Mit der Laute in der Hand hat der junge Kosak Lewko, der Sohn des Dorfamtmannes, den Kreis der Sänger verlassen. Die Lammfellmütze auf dem Kopfe, schlendert er tänzelnd durch die Gasse und zupft mit der Hand die Saiten. Da bleibt er vor der Tür eines Häuschens stehen, das von niederen Kirschbäumen umgeben ist. Wessen Haus ist es? Und wessen Tür? Nachdem er eine Weile geschwiegen, griff er in die Saiten und stimmte das Lied an:
‚Die Sonne steht niedrig,
Der Abend ist nahe,
O tritt aus dem Hause,
Geliebteste Seele!‘“
„Kennt ihr die ukrainische Nacht?“, fragt der Dichter. „Oh, ihr kennt die ukrainische Nacht nicht! Betrachtet sie nur recht genau: mitten vom Himmel blickt der Mond herab; das unermeßliche Himmelsgewölbe dehnt sich und wird noch unermeßlicher; es glüht und atmet; die ganze Erde ruht in silbernem Lichte; die wunderbare Luft ist kühl und schwül zugleich, von Wollust erfüllt, von einem Ozean von Wohlgerüchen durchströmt. Göttliche Nacht! Unbeweglich und begeistert stehen die Wälder, von Dunkel erfüllt, ungeheure Schatten vor sich werfend. Still und regungslos ruhen die Teiche; ihre kalten dunklen Gewässer sind von düstern, dunkelgrünen Mauern der Gärten eingefaßt. Das jungfräuliche Dickicht der Faulbeer- und Kirschbäume hat die Wurzeln scheu in die Kühle der Quellen versenkt und raschelt ab und zu gleichsam zürnend mit den Blättern, wenn der herrliche Nachtwind, schnell heranschleichend, sie küßt. Die ganze Landschaft schläft. Doch oben atmet alles, alles ist wunderbar, alles feierlich. Die Menschenseele aber dehnt sich ins Unermeßliche, und Scharen silberner Visionen erstehen schlank in ihrer Tiefe. Göttliche Nacht! Bezaubernde Nacht! Und plötzlich ist alles lebendig geworden: die Wälder, die Teiche, die Steppen. Man hört das majestätische Schmettern der ukrainischen Nachtigall, und selbst der Mond in der Mitte des Himmels scheint ihr zu lauschen.“
Heute gibt es diese ukrainische Nacht nicht mehr. Die Welt hat ihr Märchen in eine Hölle verwandelt; Kiew, die Mutter der russischen Städte, liegt in Trümmern, seine Bewohner erbetteln Waffen zur Verteidigung ihrer durch Hass und Gewalt vergifteten Freiheit. Feuer hat den Mondschein ersetzt, und die Nachtigallen fliehen erschrocken. Wakula, der Schmied, verschlingt nicht mehr schüsselweise Kiewer Klöße, und kein verhextes Weib im schwarzen Teufelspelz geistert durch die Gassen und fliegt zum Mond.
Jetzt sind die Lieder verstummt. Nur Granaten fliegen und erzeugen Angst und Schrecken. Ach, du schönes Land, wie bist du arg entstellt! Deine Mütter stolpern durch Trümmer, auf den Straßen liegen die Leichen deiner Söhne, die Töchter aus der einstigen Kornkammer Europas erbetteln eine Scheibe Brot für ihre Kinder. Der Streit zwischen Iwan Iwanowitsch und Iwan Nikiforowitsch, den Gogol so heiter beschrieben hat, ist zu einer globalen Farce geworden. Die alte Geschichte ist sehr lehrreich, denn sie beginnt, wie auch die neuere, mit einem Waffenhandel. Iwan Iwanowitsch forderte von Iwan Nikiforowitsch dessen alte, unbenutzte Flinte, doch der gab sie nicht her, und so wurden aus alten Freunden erbitterte Feinde.
„Was meinen Sie, wie wär’s, wenn Sie mir die Flinte geben würden?“
„Wie könnte ich! So eine teure Flinte! So eine ist für kein Geld mehr zu haben. Die stammt noch aus der Zeit, als ich in die Miliz eintreten wollte. Da habe ich sie von einem Tataren erstanden, und jetzt sollte ich sie so mir nichts dir nichts weggeben? Ich bitte Sie, das ist doch ein unentbehrliches Instrument.“
„Unentbehrlich? Wozu?“
„Wozu – wozu? Und wenn nun Räuber mein Haus überfallen! Ausgezeichnet! Nicht unentbehrlich! Gottlob, jetzt bin ich ruhig und fürchte mich vor nichts; denn ich weiß, in meiner Kammer steht eine Flinte!“
Alle Welt fragt, wer ist Putin, was will er, was macht er, und man wundert sich über seinen Mangel an Kleinmut und Unentschlossenheit. Haben die Vereinigten Staaten und Europa ihn noch nicht ausreichend ignoriert, verlacht, beleidigt und seine Vorschläge in den Papierkorb geworfen, ohne über sie nachzudenken?
„Der Krieg …“, spricht Berenice in Louis Aragons Roman „Aurélien“ zu ihrem Geliebten. „Ich schaudere bei dem Gedanken, daß Sie in dieser Hölle gewesen sind, in den Gefahren, in Kälte und Hitze […].“ Die Rede ist nicht von heute. Die Rede ist vom ersten Weltkrieg und vom Vorabend des zweiten, und Aurélien antwortet: „Ich spreche nicht gern davon […]. Dem Krieg ist jedes Mittel recht, um sich wieder bei uns einzuschleichen […]. Wir dürfen ihm keine Chance geben, dieser alten Mätresse. Wenn ich meine Hände betrachte und daran denke, was sie tun könnten, diese Hände.“ Er hielt sie vor sich hin wie die Zeugen einer Bluttat. „Und Sie, Berenice …?“ „Darüber“, sagte sie, „wollen wir nicht miteinander sprechen.“
Das Lied von der russischen Troika, mit dem Gogol den ersten Teil seines Romans „Die toten Seelen“ beschließt, erklingt jetzt erneut. Man vernimmt es zitternd: „Rußland, wohin fliegst du? Gib Antwort! Es gibt keine Antwort. Wunderbar klingen die Schellen; es dröhnt die in Stücke gerissene Luft und wird zu Wind; alles auf Erden fliegt vorbei, und alle anderen Völker und Staaten treten zur Seite und weichen ihr aus.“ Das war der russische Traum. Die Flinte steht in der Kammer. Die Nachtigallen sind geflohen. Iwan Iwanowitsch ist der Erzfeind von Iwan Nikiforowitsch. Aber was für eine Welt werden sie vorfinden, wenn sie aus ihren Träumen erwachen?
Gerhard Müller, Jahrgang ’39, Studium der Journalistik, von 1972 bis 1996 Leitender Dramaturg der Komischen Oper Berlin; lebt in der deutschen Hauptstadt.
Schlagwörter: Gerhard Müller, Gogol, Krieg, Russland, Ukraine