Rolf Mützenich ist seit 2019 Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag. Da zählte er bereits seit Jahren zu den nicht eben zahlreichen Vertretern seiner Partei, die zu sicherheitspolitischen Fragen nicht nur eine Meinung haben, sondern sie auch öffentlich vertreten.
Man erinnert sich: Als die damalige Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer 2020 durch den Erwerb von US-amerikanischen F-18-Kampfbombern in einer Nacht-und-Nebelaktion die Weichen dafür stellen wollte, die sogenannte nukleare Teilhabe Deutschlands – also die Einsatzmöglichkeit von in der Eifel gelagerten US-Atombomben mittels Trägerflugzeugen der Bundeswehr (derzeit Tornado-Kampfbomber) – auf Jahrzehnte zu verlängern, war es Mützenich, der ihr – übrigens als einziger namhafter SPD-Vertreter – klar in die Parade fuhr: „Atomwaffen auf deutschem Gebiet erhöhen unsere Sicherheit nicht, im Gegenteil. Es wird Zeit, dass Deutschland die Stationierung zukünftig ausschließt.“
Leider war vom SPD-Fraktionsvorsitzenden dann nichts zu hören, als die Parteien der jetzigen SPD-geführten Bundesregierung sich Ende 2021 in ihren Koalitionsvertrag schrieben: „Wir werden zu Beginn der 20. Legislaturperiode ein Nachfolgesystem für das Kampfflugzeug Tornado beschaffen.“ Und zwar „mit Blick auf die nukleare Teilhabe Deutschlands“.
Das muss nicht bedeuten, dass Mützenich seine Meinung revidiert hatte. Vielleicht konnte er sich ja mit seiner Auffassung gegenüber der Führung seiner Partei einfach nur nicht durchsetzen. Auf jeden Fall aber ist er seit der Zeitenwende-Rede von Kanzler Olaf Scholz vom 27. Februar 2022, in der dieser verkündet hat, dass statt der F-18 nun Kampfbomber F-35 als Kernwaffenträger beschafft werden – „Schrottflieger F-35?“ fragte DIE WELT dieser Tage ob 845 in einem Pentagon-Bericht (bis hin zum Absturzrisiko) dokumentierter Mängel des Modells – dafür zuständig, die SPD-Fraktion, soweit sie denn überhaupt zuckt, auf dieser Beschaffungslinie zu halten. Das kann man sich durchaus schwierig vorstellen, wenn einer grundsätzlich davon überzeugt ist, die nukleare Teilhabe gehöre wegen originär deutscher Sicherheitsinteressen abgeschafft.
Aber vielleicht ist alles nur halb so wild, denn gerade erst hat Mützenich vor dem Hintergrund der russischen Aggression gegen die Ukraine ein sehr viel grundsätzlicheres sicherheitspolitisches Statement abgegeben, das manches, was ihm zuvor suspekt zu sein schien, perspektivisch womöglich in ein andres Licht rückt: „Auf absehbare Zeit wird es […] Sicherheit nur gegen und nicht länger mit Russland [Hervorhebung – W.S.] geben können.“ Und wie dieser konfrontative Ansatz materialisiert werden soll, benannte Mützenich gleich mit: Die Bundesrepublik werde „künftig zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren“ und darüber hinaus „ein im Grundgesetz abgesichertes ‚Sondervermögen Bundeswehr‘ in Höhe von 100 Milliarden Euro“ einrichten.
Diese rüstungsaffine Herangehensweise mag ihren Verfechtern und Befürwortern – Verkünder Scholz stieß im Bundestag auf breiteste Zustimmung, die CDU/CSU-Opposition inklusive – aus der gegenwärtigen Lage in Europa heraus schlüssig, ja geradezu zwangsläufig erscheinen, vom Ende her gedacht ist sie allerdings nicht. Denn sollte es je zu einem direkten militärischen Konflikt zwischen der NATO und Russland kommen – ausgelöst von wem oder durch was auch immer – und sollte Moskau dabei aufgrund seiner konventionellen Unterlegenheit gegenüber dem Nordatlantikpakt ernsthaft ins Hintertreffen geraten, dann sieht die russische Militärdoktrin dafür den Ersteinsatz von Kernwaffen vor. Das wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Auftakt zum apokalyptischen Ende nicht nur der unmittelbaren militärischen Kontrahenten. Und vor einer solchen Perspektive kann sich Deutschland mittels einer wieder kriegsertüchtigten Bundeswehr nicht schützen. Als Reaktion auf die russische Aggression westlicherseits jetzt die Weichen dafür zu stellen, dass die europäische Ordnung „auf die nächsten Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, durch eine Phase der Konfrontation […] bestimmt“ (Mützenich) wird, ist daher ein fundamentaler sicherheitspolitischer Trugschluss. Die zugehörigen Sachzusammenhänge sind in diesem Magazin bereits vor längere Zeit ausführlich erörtert worden (siehe zum Beispiel Blättchen 11/2014). Fazit: „Sicherheit vor einer Atommacht wie Russland ist […] nur als gemeinsame, kooperative Sicherheit zu haben.“ (Blättchen 22/2018)
Worin aber bestände die Alternative in der gegenwärtigen Situation? Vor Moskau den Schwanz einzuziehen und damit womöglich den Appetit der dortigen Bellizisten auf weitere militärische Abenteuer zu erhöhen? Nun, danach, dass dies der Fall werden könnte, sieht der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine gerade nicht aus. Leider haben die USA, Deutschland und andere NATO-Staaten sich bisher jedoch lediglich dafür entschieden, den Konflikt durch Waffenlieferungen an Kiew zu verlängern, anstatt mit vergleichbarer Intensität auf eine diplomatische Lösung zu drängen. Derzeit ist daher eine weitere Eskalation jederzeit möglich …
Trotzdem ist es sinnvoll, über mögliche Perspektiven der künftigen Beziehungen zu Russland jenseits des bei Mützenich durchscheinenden Konfrontationsfatalismus nachzudenken.
Robert J. Goldston hat dies in der April-Ausgabe 2022 des Bulletins of the Atomic Scientists getan. Sein Ausgangspunkt: „Es gibt bereits lautstarke Stimmen, die eine Verdoppelung des US-Verteidigungsbudgets und eine Verstärkung unserer Abhängigkeit von Atomwaffen vorschlagen. Hoffentlich werden wir stattdessen so reagieren wie nach der Kuba-Krise […].“ Konkret: „Das politische Ziel der USA am Tag nach dem Ende des Krieges in der Ukraine sollte darin bestehen, dafür zu sorgen, dass sich die Umstände, die zu diesem verheerenden Krieg geführt haben, niemals wiederholen.“
Dass ein solcher Ansatz mit massivem Gegenwind rechnen muss, ist dem Autor klar, doch er hält – vom Ende her gedacht – dagegen: „Es ist verständlich, dass einige sagen werden, dass wir nicht mit Kriegsverbrechern verhandeln sollten, aber wenn wir Russland nicht in einem Weltkrieg besiegen wollen, haben wir keine andere Wahl.“
Goldston skizziert fünf Rüstungskontroll- und Abrüstungsinitiativen, die nach Kriegsende in Angriff genommen werden sollten, um die Beziehungen zu Russland wieder zu stabilisieren:
- Konventionelle Streitkräfte in Europa: Das Auseinanderziehen der konventionellen Kräfte beider Seiten entlang potenzieller Frontlinien „sollte ein Element der künftigen europäischen Politik sein“, inklusive „Beschränkungen für militärische Übungen in der Nähe sensibler Grenzen“, weil dies „beiden Seiten Sicherheit gibt“. Die „Rückkehr zu einem modernisierten Open-Skies-Abkommen“ könnte zur Verifizierung hilfreich sein.
- Nukleare Mittelstreckenwaffen in Europa: Ein neues INF-Abkommen könnte sich „nur auf Europa konzentrierten, […] um das Risiko eines schnellen Enthauptungsschlages gegen Moskau, Paris oder London zu verringern“. Zusätzlich sollten alle nicht-strategischen Kernwaffen aus der Vertragsregion („von Portugal und Irland bis zum Ural“) abgezogen werden.
- Raketenabwehr: „Ein neues ABM-Abkommen (Anti-Ballistic Missile Agreement) ist eine Notwendigkeit, um den Druck auf Russland und China zu verringern, ihre Atomwaffenarsenale zu diversifizieren und zu vergrößern. Beide Staaten sind besorgt, dass die Vereinigten Staaten eines Tages eine Erstschlagskapazität entwickeln könnten, die in der Lage wäre, einen Großteil ihrer strategischen Arsenale zu zerstören, und die durch Raketenabwehrkapazitäten unterstützt würde, die eine lückenhafte Zweitschlagskapazität auffangen könnten.“ Ein neues Abkommen müsste daher „die Gesamtzahl der ICBM-Abfangraketen nachweislich begrenzen“.
- New Start +: Wenn der bestehende New Start-Vertrag im Februar 2026 ohne Folgeabkommen ausläuft, wird einem erneuten strategischen Wettrüsten keine Vereinbarung mehr entgegenstehen. Bei einem neuen Abkommen sollten beide Seiten die Verwundbarkeit ihrer landgestützten Interkontinentalraketen gegenüber einem Überraschungsangriff in Rechnung stellen, die eine „‚use-them-or-lose-them‘-Instabilität“ zur Folge hat, „die zu einem katastrophalen, irrtümlichen Abschuss von nuklear bewaffneten Raketen im Nebel des Krieges oder in Zeiten erhöhter Spannungen führen kann. Es wäre für beide Seiten von Vorteil, wenn diese Raketen abgeschafft würden.“
- Deklaratorische Atomwaffenpolitik: Die führenden Kernwaffenstaaten (China, Frankreich, Russland, Großbritannien und die USA – P5) hätten zwar „kürzlich die Erklärung von Reagan und Gorbatschow bekräftigt, dass ‚ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden sollte‘“, doch habe dies „keine direkten Auswirkungen auf die Politik des Nukleareinsatzes“. Das habe Putins unverhüllte Androhung eines möglichen Rückgriffs auf Kernwaffen zu Beginn des Ukraine-Krieges gezeigt. Trotzdem (oder gerade deswegen) sei „eine Anstrengung“, in Richtung einer substantielleren gemeinsamen deklaratorischen Atomwaffenpolitik der P5 weiter voranzukommen, „sicherlich lohnenswert“.
Goldstons Ausklang: „Ob der Tag nach dem Krieg in der Ukraine ein Tag der Vernunft oder der wachsenden Gefahr sein wird, hängt von beiden Seiten ab. Die einzige Alternative zur Schaffung von mehr Stabilität in den Beziehungen zwischen den USA und Russland“ sei erhöhte Kriegsgefahr.
So unverändert simpel – trotz russischer Ukraine-Aggression – ist die sicherheitspolitische Arithmetik zwischen den nuklearen Supermächten immer noch und mithin auch für NATO- und EU-Europa. Reflexartige Schlüsse wie „Man muss Sicherheit gegen [Hervorhebung – W.S.] dieses aggressive Putin-Russland schaffen. Das ist die Schockerfahrung.“ (Wolfgang Thierse), so verständlich sie momentan erscheinen mögen, führen in die Irre …
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