Der berühmte deutsche Trickfilm „Werner Beinhart“ von 1990 enthält eine Persiflage auf die westdeutsche Hysterie zu Zeiten des Kalten Krieges: Meister Röhrich ruft voller Angst: „Werner, Eckat, ich glaub die Russen kommen!“
Sind wir schon wieder so weit?
Oder haben wir es mit einer absichtsvoll erzeugten Medien- und Politikkampagne im Westen zu tun?
„Angebote zum Friedensschluss ohne ein beschworenes Abkommen deuten auf eine List.“ Das steht in der 2.500 Jahre alten Sammlung „Über die Kriegskunst“ des chinesischen Generals Sun Tsu. Das trifft ziemlich exakt das, was US-Präsident Bush Sen. und seine Nachfolger mit der Sowjetunion und Russland seit 1990 bezüglich NATO-Osterweiterung getrieben haben.
Michael Thumann, der einst als Stipendiat der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ auch in der Sowjetunion und in den USA studierte, also damals als besonders begabt galt, hat sich kürzlich wie etliche andere bemüht, seinen Klassenauftrag zu erfüllen und in der Zeitung DIE ZEIT einen Text präsentiert, um Putin besonders perfider „Pläne für eine neue europäische Ordnung“ zu zeihen. Darin teilt er dem unaufmerksamen Leser mit, die letzte NATO-Osterweiterung liege 18 Jahre zurück. Das ist definitiv falsch. Wenn man sich jetzt beckmesserischer Debatten darüber enthält, ob Nordmazedonien nun im Osten, Südosten oder Süden Europas liegt, sondern die während des Kalten Krieges üblichen Landkarten zu Rate zieht, dann gehörte Mazedonien (damals noch ohne Nord) als Teil Jugoslawiens natürlich zum „kommunistischen“ Machtbereich, vulgo zum „Osten“, auch wenn es nicht direkt zur sowjetischen Sphäre rechnete. Insofern ist die Aufnahme Nordmazedoniens in die NATO 2020 natürlich Teil von deren Osterweiterung, weil östlich jener Linie, bis zu der 1989 die NATO reichte. Die Kriegsherbeischreiber sollten wenigsten bei den Fakten ehrlich sein, wenn sie es schon in der Analyse, sprich der Lagebewertung nicht sind.
Russland veranstaltet seit einigen Wochen großangelegte Militärmanöver nahe der ukrainischen Grenze, so wie der Westen in den Vorjahren etwas weniger große Manöver nahe der russischen Grenze in Osteuropa durchgeführt hat. Westliche Medien und Politiker, angefangen mit US-Präsident Joe Biden, unterstellen nun, Russland wolle die Ukraine militärisch angreifen. Die sei schwach und die NATO müsse verstärkt in Osteuropa aufmarschieren. „Demütige Worte und vermehrte Vorbereitungen sind Zeichen dafür, dass der Feind nun vorrücken wird“, sagt General Sun Tsu. Es handelt sich um die propagandistische Begleitmusik für Vorbereitungen zum weiteren Vorrücken des Westens. Die USA wollen mehr Truppen nach Osteuropa verlegen und liefern zusammen mit Großbritannien der Ukraine zunehmend Waffen und anderes Kriegsmaterial. Zur Selbstsuggestion gegenüber der eigenen Bevölkerung gehört, dass beide mitgeteilt haben, nun Botschaftspersonal aus Kiew auszufliegen. Dass dort morgen Bomben fallen oder der Hunger ausbrechen wird, hat allerdings dieser Tage selbst der ukrainische Verteidigungsminister dementiert.
In Deutschland wird erklärt: „Es liegen alle Karten auf dem Tisch.“ Was heißt das? Wenn ein US-Präsident diese Formel benutzt, geht es um den Einsatz von Militär, so gegen Libyen und Syrien. Das letzte Mal standen deutsche Truppen 1941 vor Moskau und dann in Stalingrad. Ist so etwas gemeint? Oder ist der Satz ein politisch-militärischer Scheinriese?
In den baltischen Staaten erhob sich ein lautes Geschrei, sie seien durch Russland bedroht. Haben die sich in der Himmelsrichtung geirrt? Wieso ist das Baltikum bedroht, wenn russische Truppen in der Nähe der Ukraine sind?
Aber immerhin baut Deutschland in Litauen jetzt eine Kaserne. Vielleicht schafft das dort zusätzliche Arbeitsplätze. Spanien kündigte an, Truppen nach Bulgarien zu verlegen. Ist Bulgarien jetzt gleichfalls bedroht durch russisches Militär, das auf eigenem Territorium manövriert? Das letzte Mal, dass spanische Truppen an der Ostfront waren, wurde die „Blaue Division“ bei der Hungerblockade gegen Leningrad eingesetzt. (Und im Verlaufe des Scheiterns der „Operation Barbarossa“ praktisch komplett aufgerieben.)
Schaut man genauer auf die Drohungen des Westens gegen Russland, so heißt es stets, es werde einen „hohen Preis bezahlen“ müssen. Dabei werden immer wieder die Nichtinbetriebnahme von Nordstream 2 und ein Ausschluss Moskaus aus dem internationalen Abrechnungssystem Swift genannt. Beides würde nicht nur Russland, sondern auch Deutschland und anderen westlichen Ländern schaden. Also Bestrafung des Gegners durch Selbstamputation?
Allerdings kommt hier deutlich zum Ausdruck, dass der Westen sich als Herr des Verfahrens wähnt und nicht selbst bedroht ist. Man bezieht sich auf eine Stellvertreter-Bedrohungsangst der politischen Klassen in Kiew und im Baltikum. Bei General Sun Tsu heißt es, wenn der Gegner „sich aber über die Maßen siegesgewiss zeigt und versucht, einen Kampf beginnen zu lassen, so will er, dass du den ersten Schritt tust.“ Es ist nicht damit zu rechnen, dass der russische Präsident Putin US-Präsident Biden willentlich diesen Gefallen tun wird.
In der vierten Woche des neuen Jahres haben sowohl die Hamburger DIE ZEIT als auch das Nachbarblatt DER SPIEGEL auf dem Cover je ein Gruselbild von Putin mit Generalsmütze. DER SPIEGEL allerdings dementiert im Inneren die äußere Hülle. Da ein Kernpunkt der Debatte ist, ob es westliche Zusagen gab, die NATO nicht nach Osten auszuweiten, oder ob das russische Einbildung ist, kommt einem solchen Bezug große Bedeutung zu. DER SPIEGEL präsentiert ein Gespräch mit drei Russland-Expertinnen – darunter Nina Chruschtschowa, einer Enkelin des einstigen sowjetischen Partei- und Regierungschefs Nikita Chruschtschow – zu Putins Beweggründen. Chruschtschowa berichtet, dass Putin in dieser Frage Recht habe. „1990 wurde Michail Gorbatschow zugesichert, dass die Nato nicht einen Zoll weiter nach Osten expandieren werde. […] Ich habe damals für den US-Botschafter in Moskau gearbeitet, Jack Matlock, der sagte: Die Russen hätten sich das schriftlich geben lassen sollen. Haben sie aber nicht, und das verursachte eine Menge Missverständnisse.“
Unter Schlammschichten ein historisches Juwel. Hier haben Zeithistoriker und Politik-Analytiker eine frische Quelle für das, was seit Anfang der 1990er Jahre ohnehin klar war. Wird es nach Abflauen der derzeitigen Spannungen einen ernsthaften Bezug auf die historische Wahrheit geben?
Schlagwörter: Bernhard Romeike, NATO, Osterweiterung, Russland, Ukraine