25. Jahrgang | Nummer 2 | 17. Januar 2022

Ist Demokratie weiblich?

von Bernhard Mankwald

Wie schafft man es, mit einem Musikvideo auf einer einschlägig bekannten Plattform eine Flut von fast 2000 Kommentaren hervorzurufen? Ein probates Mittel dazu ist es, die obige Frage – die auf den ersten Blick ungefähr so sinnvoll erscheint wie etwa diejenige nach der Konfessionszugehörigkeit von Marienkäfern – in einen Aussagesatz und damit in eine handfeste Provokation zu verwandeln. Und probiert hat das – mit dem beschriebenen Erfolg – der Leipziger Musiker Sebastian Krumbiegel.

„Die Demokratie ist weiblich“, hören wir also; und unterstrichen wird die Aussage dadurch, dass vom Sänger lediglich die Hände auf einer Klaviatur zu sehen sind, und auch die nur in einem kurzen Intro. Die eigentliche Aussage wird wechselnden Frauengestalten in den Mund gelegt, und da diese ihre Lippen synchron bewegen, fragt man sich zunächst überrascht, wer da eigentlich singt. Spätestens an der Stelle, an der markante Männergesichter auftauchen, denen man ebenso markante Stimmen zuordnet, wird klar, dass es die bestimmt nicht sind. Und auch die Lippensynchronität lässt im weiteren Verlauf stark nach und wird schließlich ganz aufgegeben. Das alles steckt voller Überraschungen, da die Gesichter mehr oder minder bekannt und die Einstellungen ungleich lang sind; gelegentlich erscheinen auch mehrere Gestalten nebeneinander im Bild. Das Interesse wird also durch das heitere Ratespiel „Wer ist denn das schon wieder?“ gefördert. Und der Streifen trägt damit Züge eines Experimentalfilms: ein Fotoalbum, in dem die Porträtierten nicht durch ein Standfoto, sondern durch ihre Mimik, ihre Bewegungen oder auch durch eine anmutige Fingerchoreographie charakterisiert sind.

Die Aussage „Die Demokratie ist weiblich“ wurde von vielen Kommentatoren wörtlich genommen und löste lebhaften Widerspruch aus; aber ähnelt die Intonation des Sängers mit ihren Pausen nicht den Versuchen, Zitate im mündlichen Vortrag als solche hervorzuheben? Im Schriftlichen benutzt man zu diesem Zweck Anführungsstriche. Ein zusätzliches Paar dieser Satzzeichen aber verändert den Sinn völlig: Der Aussage „,Die Demokratie‘ ist weiblich“ würde wohl schwerlich jemand widersprechen. – Im linguistischen Jargon wäre letzteres wohl ungefähr so zu formulieren: „Die Nominalphrase ,die Demokratie‘ ist im Rahmen der gebräuchlichen deutschen Grammatik dem weiblichen Genus zuzuordnen.“ – Der erste Beispielsatz enthält eine Aussage über einen Gegenstand (oder in diesem Fall über ein sehr abstraktes sozialwissenschaftliches Konzept); der zweite informiert darüber, in welche Kategorie eines sprachlichen Regelwerks ein bestimmter Satzteil einzuordnen ist.

Mich erinnert das an Kippfiguren – wie etwa die bekannte „Rubinsche Vase“, die nur dann als solche erscheint, wenn man die weiße Fläche als Figur wahrnimmt. Sieht man sie dagegen als Hintergrund, so erscheinen stattdessen zwei Gesichter im Profil.

Sebastian Krumbiegel hat da also sehr geschickt ein Prinzip eingesetzt, das ich für mich als „Semantische Kippfigur“ bezeichne. – Ein weiteres Beispiel aus dem sprachlichen Bereich: Der Ratschlag des legendären chinesischen Philosophen Lao Tse „Wage es nicht zu handeln“ ist zweideutig. Dies wird klar, wenn man den Sinn durch ein Komma verdeutlicht: Steht es hinter dem „nicht“, wird das Handeln zum Wagnis, von dem abgeraten wird. Ein Komma hinter dem „es“ hingegen macht das Nichthandeln zum – empfohlenen – Wagnis. Und allein die Überlegung, welcher der Fälle nun zutrifft, erweist sich in vielen Situationen als praktische Lebenshilfe. – Im Zen-Buddhismus nennt man solche ambivalenten Aussagen übrigens „Koan“ und benutzt sie zum Zwecke der Bewusstseinserweiterung.

Neben den erwähnten beiden Möglichkeiten, die hier diskutierte These zu interpretieren, kann man sie aber auch als Allegorie verstehen. Dann wird aus dem Songtext eine kluge Reflexion über die Frage, welche Art von Sprachbildern zur symbolischen Darstellung bestimmter Begriffe am besten geeignet ist. Und Krumbiegels Axiom wird mehrheitsfähig: Auf den französischen Cent-Münzen etwa wird das Prinzip – nicht etwa der Demokratie, sondern lediglich der Republik, die sind da in dem Punkt ehrlicher und bescheidener – ausschließlich durch Frauengestalten symbolisiert.

„Cherchez la femme!“ – wenn man diese Handlungsanweisung auf deutsche Zahlungsmittel der Zehn-Cent-Klasse anwendet, findet man die Lenkerin des Fahrzeugs auf dem Brandenburger Tor in Berlin. Diese Domina hat übrigens nacheinander das Preussische Imperium, die verschämte Republik, die sich lieber als „Deutsches Reich“ bezeichnete, und den Nazidespotismus repräsentiert und geht jetzt als Symbol der Demokratie durch. – Wer schreibt ein passendes Lied zu dieser Problematik?