Zwei Jahre nach Ausbreitung der Covid-19-Infektion stellt sich für viele die Frage, ob das, was wir seit Anfang 2020 als „globale Pandemie“ erleben und wofür bis heute kein Ende abzusehen ist, tatsächlich das ist, wofür es ausgegeben wird, eine „existenzbedrohende Krise der Menschheit“. Bis zum 1. Dezember 2021 wurden weltweit 263 Millionen Corona-Erkrankungen registriert und 5,2 Millionen Todesfälle erfasst. Die Zahl der Erkrankten entspricht etwa 3,3 Prozent der Weltbevölkerung, die Rate der an oder mit Corona Gestorbenen liegt bei 9,5 Prozent der Todesfälle pro Jahr. Das ist viel, übersteigt aber nicht den Anteil anderer Todesursachen wie Herzversagen oder Hirninfarkt. In Deutschland gibt es bisher 5,8 Millionen Corona-Fälle und 101.000 Tote. Auch diese Zahlen sind beunruhigend, markieren aber auch hier noch keine Katastrophe. So lagen die Sterbezahlen im Jahresverlauf 2020 und 2021 nur geringfügig über dem langjährigen Mittel und war die Übersterblichkeit minimal. Zeitweise (im Frühjahr 2021) starben sogar weniger Menschen als in den Vorjahren. Gleichzeitig aber gibt es trotz massiver Einschränkungen im öffentlichen und privaten Leben und temporärem Lockdown keinen wirklichen Fortschritt bei der Bewältigung der Pandemie. Bei Medizinern, Ethikern, Sozialwissenschaftlern und allen, die sich eingehender damit beschäftigen, wachsen daher die Zweifel an der Angemessenheit des Umgangs mit der Pandemie und an der Wirksamkeit der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung und Überwindung.
Vielleicht ist es noch zu früh, um hier medizinisch und politisch zu validen Schlüssen zu kommen. Einiges scheint aber schon jetzt festzustehen: Erstens gibt es nicht nur Leidtragende und Verlierer der Corona-Krise, sondern auch Gewinner. Zweitens wird die okzidentale Gesellschaft nach der Krise nicht mehr dieselbe sein wie zuvor. Und drittens haben alle Tendenzen einer sozialen Spaltung und Polarisierung durch die Corona-Krise eine deutliche Forcierung und Beschleunigung erfahren.
Zum ersten Punkt gibt eine aktuelle Studie der Karls-Universität Prag einigen Aufschluss. Danach haben durch die Pandemie, besonders aber durch den Lockdown im ersten Halbjahr 2020, sehr viele kleine und mittlere Unternehmen erhebliche Einbußen beim Umsatz und bei den Gewinnen hinnehmen müssen, während Großunternehmen und multinationale Konzerne mit Präsenz in der Europäischen Union beachtliche Extra-Gewinne einfahren konnten. Die Rede ist hier von 364 Milliarden Euro an Profiten, die über das Normalmaß der Gewinnerwirtschaftung hinausgehen. Man beachte dabei, dass 2020 ein Krisenjahr war, das Jahr mit dem tiefsten wirtschaftlichen Einbruch seit der großen Finanzkrise 2008/09! Die Masse der Unternehmen hat hier keine Extra-Gewinne realisiert. Viele nicht einmal die normalen Gewinne. Sehr wohl aber die multinationalen Konzerne: Rund 41 Prozent dieser Extragewinne entfielen auf die Industrie, 21 Prozent auf Informationstechnologien, 16 Prozent auf den Finanzsektor. Den Löwenanteil konnten US-Konzerne für sich verbuchen. Die Corona-Pandemie war und ist für sie ein „Profit-Booster“ (Fabian Lambeck) größten Ausmaßes. 2021, als die Wirtschaft wieder besser lief, dürften die Extra-Gewinne der multinationalen Konzerne noch höher ausfallen. Damit setzt sich durch die Pandemie und durch die erfolgten Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung der Konzentrations- und Zentralisationsprozess in der Wirtschaft beschleunigt fort. Es liegt auf der Hand, dass es vor allem Logistik- und Informatik-Konzerne wie Amazon, Google und Facebook sind, die hiervon profitieren. Zu den Gewinnern gehören aber auch die Deutsche Post AG, viele Unternehmen in der Pharmabranche und in der Automobilindustrie. Insgesamt wurden in der Statistik 1763 internationale Unternehmen aufgelistet, die eindeutig als Gewinner der Pandemie anzusehen sind. An den Leitbörsen der Welt, im Dow Jones, im DAX und in anderen Indizes, wo die Konzerne platziert sind, spiegelt sich diese Entwicklung anschaulich wider: Der Dow Jones legte seit 2019 um 56,1 Prozent zu, der DAX um 51,3 Prozent. Demgegenüber geht die Zahl der Corona-Verlierer inzwischen in die Millionen. Allein in den USA sind die Gewinne kleinerer Firmen im Jahr 2020 um 85 Prozent geschrumpft. Zu den Verlierern hierzulande zählen kleine Geschäfte, Gaststätten, Hotels, Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe, Reiseunternehmen, Freizeit-, Sport- und Kultureinrichtungen. Viele von ihnen werden die Krise nicht überleben. Sie werden von den großen Handelsketten und Dienstleistungskonzernen übernommen oder schlicht vom Markt verschwinden. Was wir sehen werden, ist eine Marktbereinigung in ganz großem Stil.
Was den zweiten Punkt anbetrifft, die Neuordnung der bürgerlichen Gesellschaft, so vollziehen sich die Veränderungen hier schleichend und mitunter widersprüchlich, was ihre unvoreingenommene Analyse erschwert. Tatsache ist aber, dass wir es im Zuge der Corona-Krise mit staatlichen Eingriffen in die verfassungsmäßigen Grundrechte der Bürger zu tun haben, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Und das nicht nur in Staaten mit eingeschränkter Demokratie, sondern auch in Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, Italien, Polen und anderen Staaten Europas und in der Welt. Noch klingt es vielleicht übertrieben, wenn davon gesprochen wird, dass „hinter der Krise […] immer deutlicher eine totalitäre Utopie auf-(scheint), die den Prinzipien einer freien, friedlichen und vielfältigen Zivilisation zuwiderläuft“ (Paul Schreyer). Unstrittig dürfte jedoch sein, dass sich an vielen Stellen in der Welt, auch in westlichen Demokratien, immer stärker autoritäre Tendenzen bemerkbar machen. Die Ausbreitung von Unsicherheit und Angst sowie eine verwirrende Informationspolitik bereiten den Boden für die Verstärkung staatlicher Kontrollen und die Einschränkung individueller Freiheitsrechte. Ebenso aber auch für politische Gegenbewegungen, die Verbreitung von Verschwörungsideologien und einen allgemeinen Kulturpessimismus. Wichtige Fragen der menschlichen Existenzsicherung wie der Klimawandel, die anstehende sozial-ökologische Reform und die Bekämpfung von Elend und Armut in der Welt geraten dadurch aus dem Blick. Die Corona-Krise und die Maßnahmen zu ihrer Prävention und Überwindung tragen insofern dazu bei, die anstehende Gesellschaftstransformation zu verzögern und den Status quo aufrecht zu erhalten, indem sie die Verfassung der Staaten autoritärer machen.
Der dritte Aspekt betrifft die Forcierung der ökonomischen und sozialen Spaltung der Gesellschaft und der Welt durch die Corona-Krise. Es scheint eine einfache Wahrheit zu sein, dass die Pandemie keinen verschont und dass alle, ob reich oder arm, gleichermaßen von ihr betroffen sind. Aber dem ist nicht so! Es sind die Armen in der Welt, Staaten wie Regionen, Familien, Klassen, Gruppen und Individuen mit geringem Einkommen und wenig Vermögen, die unter der Pandemie am stärksten leiden. Und es sind vor allem die Alten, die an dem Virus sterben, in erster Linie aber die armen Alten.
Die Tatsache, dass eine Pandemie wie die vom Covid-19-Virus ausgelöste, zur Folge hat, dass viele kleine Unternehmen, Geschäfte und Selbstständige ruiniert werden, einige wenige Großunternehmen aber Extra-Gewinne erzielen, wodurch die Armen in der Welt ärmer und die Reichen reicher werden, und sich die bürgerlich-demokratischen Staaten nicht mehr anders zu helfen wissen, als sich dem Diktat multinationaler Konzerne zu beugen und durch Aufgabe demokratischer Errungenschaften autoritäre Tendenzen zu befördern, hat Kritiker dieser Politik dazu bewogen, ein indianisches Sprichwort zu bemühen. Es lautet: „Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab.“ – Vielleicht sind der bürgerlich-demokratische Staat und der Kapitalismus westlicher Prägung ein solches „totes Pferd“, das wir immer noch reiten. Abzusteigen wäre einfach, hätte man ein neues und besseres Pferd zur Hand. Das alternative „Pferd“ aber ist vor dreißig Jahren verendet, steht also nicht mehr zur Verfügung, auch wenn es immer wieder Reanimationsversuche gibt. Also reiten wir weiter das alte Pferd, auch wenn es eigentlich schon tot ist. – Aller Sprichwort-Weisheit zum Trotz!
Schlagwörter: Corona, Demokratie, Kapitalismus, Konzerne, Ulrich Busch