24. Jahrgang | Nummer 23 | 8. November 2021

Gasdruck

von Klaus Joachim Herrmann

Wenn die Deutschen nicht nach Sibirien kommen, dann schickt der Kreml Sibirien eben zu ihnen. In diesem Sinne drohte weit deutlicher als nur unterschwellig die grüne Spitzenfrau friedlichen deutschen Haushalten mit einem knackigen russischen Winter. Der Kremlchef mache mit erpresserischer Verknappung der Gaslieferungen politischen Druck, damit die Pipeline Nord Stream 2 schneller die Betriebsgenehmigung erhalte, unterstellt die Regierungsaspirantin Annalena Baerbock und macht Angst: „Die Leidtragenden sind die Kunden in Deutschland, deren Gaspreise steigen werden oder die im Extremfall sogar im Kalten sitzen müssen.“

Mit Fakten hat es die große grüne Hoffnung bekanntlich nicht so. Sie beklagte unsauberes „Spiel“, das Wladimir Putin treibe. Da wunderte sich Russlands Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), dass „statt allgemein zugänglicher und leicht verifizierbarer Informationen unverkennbare Fakes in den Raum gesetzt werden und objektive Analysen primitiven Manipulationen weichen müssen“. Denn mit breiter, wenn auch nicht selten widerwilliger Zustimmung können russische Offizielle und der Konzern Gazprom versichern, alle Verträge würden strikt eingehalten.

Im EU-Rat dämpfte Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich die Aufregung mit dem Hinweis, es stelle sich vielmehr die Frage, ob genug Gas bestellt oder ob gerade wegen des hohen Preises derzeit nicht so viel geordert worden sei. „Russland kann ja nur Gas liefern auf der Grundlage von vertraglichen Bindungen und nicht einfach so.“ Wirtschaftsminister Peter Altmaier ließ sich mit dem Hinweis zitieren, dass Russland seinen Verpflichtungen nachkomme. Bis Mitte Oktober habe Gazprom allein nach Deutschland 28,2 Prozent mehr Gas als im Vorjahreszeitraum geliefert, teilte der Konzern laut Manager Magazin mit.

Russland pumpt offenbar gerade nicht so viel Gas nach Europa, wie es alle Leitungen hergeben würden. Doch es vermeidet demonstrativ, für die Preisexplosion und den Füllstand der Speicher verantwortlich gemacht werden zu können. Dabei hilft sogar die russophiler Neigungen unverdächtige Internationale Energieagentur (IEA). Deren Direktor Fatih Birol verwies auf „das Resultat multipler Faktoren“. Die Nachfrage habe sich in vielen Teilen der Erde stark „erholt“, Europa eine kalte und lange Heizperiode im vergangenen Winter durchlebt und mangels Sonne und Wind zu wenig alternativen Strom einspeisen können.

„Der Gaspreisanstieg in Europa ist die Folge eines Strommangels und nicht umgekehrt. Und da darf man nicht sozusagen anderen die Schuld in die Schuhe schieben, wie es einige unserer Partner zu tun versuchen“, vermerkte Putin auf einem Energieforum Anfang Oktober. „Der Energiemix in Europa hat sich in den letzten zehn Jahren dramatisch verändert. Viele Länder in der Region haben Kohle- und Atomkraftwerke zugunsten der wetterabhängigen Windenergie aufgegeben“, meinte er. Da wird es auch nach Einschätzung deutscher Experten wohl für längere Zeit ohne russisches Erdgas nicht gehen.

Es ist freilich zutreffend, dass Russland sein Angebot auf den schwankenden Spotmärkten nicht erhöhte. Mit der Anklage, das sei Erpressung, dürften aber auch militante Transatlantiker wie CDU-Spitzenmann Norbert Röttgen bei keinem seriösen Gericht durchkommen. BILD verfällt derweil bereits in Kriegsrhetorik: eiskalte Erpressung, Eskalation, Großangriff auf Europa. Doch der Förderer und Lieferant macht Probleme und erhöhten Eigenbedarf geltend, aber ebenso glaubhaft, dass die Förderung des Energieträgers längerfristige Planung und Vertragsgestaltung erfordere. Den europäischen Kunden, die Verträge auslaufen ließen und auf den kurzfristigen Spotmarkt setzten, wirft Moskau Kurzsichtigkeit vor. Sie hätten, so Putin, „in der Tat Fehler“ gemacht.

Von einer Aufstockung der USA-Angebote an Flüssiggas (LNG) wurde derweil nichts bekannt. Allerdings fiel es niemandem ein, den mächtigen Mann in Washington deshalb der Unredlichkeit oder gar erpresserischer Absichten zu schelten. Schon gar nicht der laut einer Schlagzeile des RND „transatlantischen Frau Baerbock“. Dabei hatte Joe Biden brutale Sanktionen gegen den Bau der Pipeline Nord Stream 2 mit der Werbung für eigene Lieferungen begleitet – unter der Losung, sicherer Energieträger aus den USA ersetzt unsicheren russischen.

Doch Tanker mit Flüssiggas aus den USA steuern in Zeiten von Rekordpreisen lieber Asien als Europa an. Da ist ganz einfach mehr zu holen. Das hätte eine so schöne Probe aufs Exempel werden können. Der Beweis, dass die transatlantische Freundschaft über alles hinweghilft, wurde jedoch schuldig geblieben. Erst die Moskauer Ankündigung zusätzlicher Lieferungen begann den Markt zu beruhigen und ließ Preise wieder etwas sinken.

Unumstritten bleibt die Feststellung der russischen Wirtschaftszeitung Kommersant: „Wir haben die Ware, sie haben die EU.“ Russland und die Gemeinschaft aber würden derzeit keinen Ausweg aus der Energiekrise finden. Gazprom möchte durch die Ukraine keine größeren Mengen Erdgas liefern, die EU wiederum die Nutzung von Nord Stream 2 noch nicht gestatten. Seit Jahrzehnten sei das ukrainische Leitungsnetz schlecht gewartet worden und der Transport gefährlich, klagt Putin. 85 Prozent der Leitungen seien marode und könnten explodieren.

Die deutsche Bundesnetzagentur, an der die Zertifizierung hängt, ist nichts weniger als eine Behörde. Die hat Zeit – und kann bis zum 8. Januar prüfen. Brüssel, wo niemand mehr auch nur noch heuchelt, man wolle den russischen Covid-Impfstoff Sputnik V irgendwann einmal vielleicht doch zulassen, zeigt ohnehin keinen Eifer für die Pipeline. Sie wird als geostrategische Waffe geschmäht, mit der die inzwischen prowestlichen Transitstaaten Ukraine und Polen um erhebliche Einnahmen gebracht werden sollen.

Unmittelbar nach dem Sieg des Westens im blutigen Ringen um die künftige Ausrichtung der Ukraine auf dem Maidan gab es bis in das deutsche Außenamt die trügerische Illusion, nun solle Russland gemeinsam mit Europa dem Nachbarland dessen teuren Weg aus der Krise finanzieren. Das sah Moskau lediglich als logische Verpflichtung des triumphierenden Westens und als Zumutung. Die Beziehungen der einstigen Brüder sind denkbar schlecht, warum sollte Russland da den Zahlmeister machen, und wenn es sein Exportgut ohne Durchleitungsgebühren billiger transportieren kann, warum sollte es das nicht auch tun wollen?

Den massiven Druck, den die USA und einige ihrer Verbündeten zur Verhinderung der Gasleitung und für den Transit durch Polen und die Ukraine ausüben, dürfte Moskau seinerseits als Erpressung verstehen. Dies umso mehr, da es sich einer aus seiner Sicht unbegründeten ganzen Kaskade von Sanktionen sowie haltlosen Beschuldigungen und unfreundlichen Aktionen ausgesetzt sieht. So klagte die Publizistin Jelena Karajewa: „Europa wird von der Russophobie erschüttert, wie ein Patient von einer Krankheit, die auch ‚Veitstanz‘ genannt wird.“

Der Westen und Russland waren seit langem von guter Nachbarschaft kaum weiter entfernt als derzeit. Doch gerade deren Pflege wäre höchst angeraten. Schon weil es miteinander in schwieriger Zeit allemal besser gehen würde als gegeneinander. Der Chef des Industrieverbandes BDI, Siegfried Russwurm, konstatierte laut dpa geschäftsmäßig trocken und realpolitisch: „In einer Zeit, in der die Gas-Nachfrage das Angebot übersteigt, sitzen die Anbietenden am längeren Hebel.“ Allerdings hatte sich bereits die Sowjetunion auch im kältesten Kalten Krieg mit Liefer- und Vertragstreue stets als zuverlässiger Versorger erwiesen.

Das ist in der gegenwärtigen Ost-West-Beziehungskrise nicht anders. Gazprom erfülle seine Verpflichtungen zur Durchleitung von Gas durch die ukrainischen Röhren, obwohl es sich für den Konzern nicht lohne, betont Moskau. Der erste Strang von Nord Stream 2 sei befüllt, es bedürfe nur der Zertifizierung und die Pipeline könne am nächsten Tag in Betrieb gehen, setzte Putin einen drauf. Was angesichts der bevorstehenden Jahreszeit hätte Erleichterung auslösen müssen, führte aber nur zu weiterem Verdruss und demonstrativer Empörung über den Kremlchef am Gashahn. Wie die Ankündigung, auch der zweite Strang werde mit technischem Gas befüllt und bis Ende Dezember betriebsbereit sein.

Damit nicht genug, kündigte Putin eine Ausweitung der Lieferungen nach Europa für Anfang November an. Nach den russischen würden deutsche und österreichische Speicher befüllt. Zufällig dürfte das Angebot nicht unmittelbar auf die offizielle Analyse des Bundeswirtschaftsministeriums gefolgt sein, dass eine Zertifizierung der Röhren die Sicherheit der Gasversorgung Deutschlands und der Europäischen Union nicht gefährde. Gasdruck ist eben doch einiges mehr als nur eine physikalische Größe.