Ein weiterer Schlag
für die Ost-West-Beziehungen,
die sich bereits nahe der Tiefststände
des Kalten Krieges befinden.
Sergei Lavrov,
russischer Außenminister,
18. Oktober 2021
Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland produziert Pessimismus seit langem die realistischeren Prognosen. So lautete, kaum dass Joe Biden sein Amt als US-Präsident angetreten hatte, der Titel eines Grundsatzbeitrages in Foreign Affairs, dem führenden außenpolitischen Magazin der USA:, „U.S.-Russian Relations Will Only Get Worse“ („Die Beziehungen zwischen den USA und Russland werden sich nur verschlechtern“). Der jüngste, eine solche Einschätzung rechtfertigende Akt hat gerade stattgefunden: Am 6. Oktober hatte die NATO acht Mitglieder der russischen Mission bei der Allianz ausgewiesen – als angebliche Geheimdienstler. In Reaktion darauf verlautbarte am 18. Oktober aus Moskau, man werde „die Aktivitäten der russischen diplomatischen Vertretung bei der NATO einstellen“. Außenminister Lavrov erklärte überdies, dass den Mitarbeitern der NATO-Militärmission in Moskau ab dem 1. November die Akkreditierung entzogen und das Informationsbüro der Allianz in der russischen Hauptstadt geschlossen würden. „Die NATO“, so Lavrov, „ist nicht an einem gleichberechtigten Dialog und gemeinsamer Arbeit interessiert.“ Daher „sehen wir keine Notwendigkeit, weiterhin so zu tun, als ob in absehbarer Zeit Änderungen möglich wären“. Im Übrigen: „Wenn die NATO-Mitglieder dringende Angelegenheiten haben, können sie sich in diesen Fragen an unseren Botschafter in Belgien wenden.“
Für den leider immer noch Chef des Berliner Auswärtigen Amtes eine Steilvorlage, ein weiteres (endlich letztes?) Mal das Niveau seines außenpolitischen Reflexions- und Analysevermögens aufblitzen zu lassen: Russland scheine nicht mehr bereit zu sein, mit dem Westen zu reden. „Diese Entscheidung aus Moskau […] wird die Beziehungen ernsthaft beschädigen.“
Wenn man mit ausgestrecktem Zeigefinder jemanden an den Pranger stellt, wird gern übersehen, dass dabei drei Finger auf einen selbst zurückweisen. Denn Moskau demonstriert ja nun letztlich auch nur jenen Zustand vorsätzlicher Substanzlosigkeit und kaum verhüllter Animosität, in dem der Westen in Gestalt von NATO und EU sich schon lange vor der Zuspitzung des Ukrainekonflikts im Jahre 2014 eingerichtet hatte – ob man nun an Hillary Clintons demonstrativen roten Resetknopf für das Verhältnis zu Moskau aus dem Jahre 2009 denkt, dem in Washington keinerlei praktischer Neustart folgte, oder an die nie eingelöste Offerte des NATO-Gipfels von Lissabon 2010, der Pakt verfolge „aktiv die Zusammenarbeit mit Russland bei der Raketenabwehr“, oder an des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Barroso verhängnisvolles Ultimatum von 2013 gegenüber der Ukraine, das Land müsse sich zwischen Partnerschaft mit der EU oder mit Russland entscheiden.
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Währenddessen hat das militärische Alltagsgebaren an der neuen Konfrontationslinie beider Seiten vom Nordpolarmeer über die Ostsee und die sogenannte NATO-Ostflanke über das Schwarze Meer bis ins Mittelmeer – eine seit 2014 quantitativ und qualitativ sprunghaft angestiegenen Manövertätigkeit beider Seiten inklusive – längst wieder Züge angenommen, die militärische Zwischenfälle jederzeit möglich machen. Ohne dass allerdings noch hinreichend Kommunikationskanäle und Instrumente zur Verfügung stünden, um dem im Falle des Falles zwischen atomar bewaffneten Gegnern überlebenssichernden Grundsatz „erst fragen und dann nicht schießen“ überhaupt noch folgen zu können. Insofern führt der Vergleich mit dem alten Kalten Krieg tatsächlich in die Irre, weil seinerzeit – konkret seit der Kubakrise von 1962 – Eskalationsvermeidung ein gemeinsames, auch materiell untersetztes Anliegen war.
Mehr noch: „Mit dem Aufkommen von künstlicher Intelligenz, Fake News, Desinformationskampagnen und Cyberkriegsführung wird die Risikominderung sogar noch schwieriger. All diese Technologien und Techniken haben den Nebel des Krieges verdichtet und die Wahrscheinlichkeit einer gefährlichen Fehleinschätzung oder eines Unfalls erhöht.“ So Dmitri Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Centers, Vygaudas Ušackas, ehemaliger Außenminister Litauens, und Graham Stacey, Royal Air Force-Pensionär und Senior Consulting Fellow beim European Leadership Network, in einem gemeinsamen, kürzlich publizierten Beitrag mit dem Titel „War Games Are No Game“ („Kriegsspiele sind kein Spiel“).
Mit Blick auf die seinerzeit noch anstehenden Großmanöver Zapad-2021 (Russland) sowie Ramstein Alloy und Joint Warrior (NATO) erachteten die Autoren es als „dringlich […], die Gefahr zu mindern, dass die Übungen zu einem Brennpunkt für Konflikte werden“. In diesem Kontext kann dem Statement des Trios nur beigepflichtet werden, es sei „für alle Seiten sinnvoll, sich so zu verhalten, dass sie andere nicht provozieren oder zu Fehleinschätzungen […] mit möglicherweise katastrophalen Folgen führen“.
„Glücklicherweise“, meinen die Autoren weiter, gäbe es „Instrumente, die sofort eingesetzt werden können, um […] Risiken zu verringern. Viele der vertrauensbildenden Maßnahmen, die am Ende des Kalten Krieges und in seiner unmittelbaren Folge eingeführt wurden, sind zum Teil immer noch in Kraft, selbst nach dem Ende des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa und des Vertrags über den Offenen Himmel. Diese Kanäle sollten in vollem Umfang genutzt werden. Der NATO-Russland-Rat (NRC) hat sich zwar bisher nicht zu einem Instrument der Partnerschaft entwickelt, kann aber als Kommunikationsmechanismus dienen, um gefährliche militärische Zwischenfälle oder deren Eskalation zu verhindern. Zusätzlich zum NRC sollte es direkte, substantielle Kontakte und gelegentliche persönliche Treffen zwischen dem Obersten Alliierten Befehlshaber Europa (SACEUR) der NATO und dem russischen Generalstabschef sowie anderen hochrangigen militärischen Befehlshabern und Experten beider Seiten geben. Regelmäßige Gespräche würden das Vertrauen in die Tatsache stärken, dass die militärischen Aktivitäten beider Seiten nicht auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff hinauslaufen, und dieselben Kanäle könnten im Falle von Missverständnissen den Weg zu einer sofortigen Deeskalation ebnen. Andere bestehende Instrumente sollten wiederbelebt und aktualisiert werden, angefangen mit dem Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen von 2011.“
Entsprechende Schritte, so das Trio abschließend, würden zwar „nicht dazu führen, dass sich feindliche Beziehungen in freundschaftliche Beziehungen verwandeln. Aber sie würden zumindest sicherstellen, dass es politische Feuerwehren gibt, die bereit sind, lokale Brände zu löschen, bevor sie Europa in Brand setzen.“
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Unglücklicherweise, so muss man Trenin und Kollegen leider ergänzen, sind derzeit auf beiden Seiten der Konfrontation keinerlei entscheidungsrelevante Persönlichkeiten oder gar politische Kräfte zu erkennen, die empfänglich für derartige Ratschläge und in der Lage wären, entsprechende Initiativen zu ergreifen.
In dieser Hinsicht besteht auch keine Hoffnung im Hinblick auf die kommende Bundesregierung. Gerade erst hat Dmitri Stratievski, Direktor des Osteuropa-Zentrums Berlin, daran erinnert, dass einerseits der wahrscheinlich künftige Bundeskanzler Olaf Scholz „[nie] ein besonderes Interesse an Russland […] bekundet“ habe und „seine außenpolitischen Interessen, wie die Beziehungen zu Osteuropa, […] immer zweitrangig“ gewesen seien, und dass andererseits mögliche grüne Außenminister wie Baerbock oder Habeck wahlweise dafür plädiert hätten, „den Druck auf Russland zu erhöhen“ oder Waffen an die Ukraine zu liefern.
Insgesamt gleicht die heutige Ost-West-Lage jener vor der Kuba-Krise von 1962: narzisstisches Zündeln hier wie da – ohne wahrnehmbaren Sinn und Verstand für die möglichen Konsequenzen. Eher beiläufiges Wegwischen der letzteren. Wie durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin nach dem Seezwischenfall vom Juni 2021, als die russische Schwarzmeerflotte den britischen Lenkwaffenzerstörer HMS Defender nahe der Krim mit Warnschüssen und Bombenabwürfen zum Kurswechsel gezwungen hatte: „Selbst wenn wir dieses Schiff versenkt hätten, wäre es schwer vorstellbar gewesen, dass die Welt am Rande eines Dritten Weltkriegs gestanden hätte.“
Ob britische Buchmacher bereits Wetten darauf annehmen, wie oft dergleichen noch gutgehen mag?
Schlagwörter: Diskurs, Fehleinschätzung, Konfrontation, Kuba-Krise, Manöver, Russland, Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Westen, Wolfgang Schwarz