Detlef Nakath ist tot. Kurz vor seinem 72. Geburtstag, den er am 10. November hätte feiern können, ist er am 3. Oktober gestorben. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat einen bedeutenden Historiker und herausragenden Organisator kollektiven Forschens verloren.
Wer immer sich künftig mit der deutschen Geschichte seit dem Jahre 1990 und mit den ihr vorangehenden Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten DDR und BRD 1949-1990 beschäftigen will, wird um drei dickleibige Handbücher nicht herumkommen: Die SED. Geschichte – Organisation – Politik (1226 Seiten, dietz berlin 1997), Die Parteien und Organisationen der DDR (1488 Seiten, dietz berlin 2002) und Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft – Staat – Politik (1358 Seiten, dietz berlin 2006). Beim ersten, herausgegeben von Andreas Herbst, Gerd-Rüdiger Stephan und Jürgen Winkler, ist Detlef Nakath gemeinsam mit Christine Krauss als „Gesamtredaktion“ ausgewiesen, bei den anderen gehört er zu den Herausgebern: beim zweiten mit Stephan, Herbst, Krauss und Daniel Küchenmeister, beim dritten wieder mit Stephan und Clemens Burrichter. In allen drei Bänden zeichnet er auch für gewichtige Einzelbeiträge verantwortlich: im ersten für Außenpolitik und Deutschlandpolitik, im zweiten gemeinsam mit Kurt Schneider für Demokratischer Block, Nationale Front und die Rolle und Funktion der Blockparteien und im dritten gemeinsam mit Michael Lemke für Die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik und der DDR und die innerdeutschen Beziehungen.
Das war die besondere Qualität der Arbeit des Detlef Nakath: dass ihm seine Forschung nie vorstellbar war als Arbeit im stillen Kämmerlein, sondern immer nur als Wechselspiel von individuellem und kollektivem Schaffensprozess, und so führte er in den Handbüchern 20, 30, gar 40 Autorinnen und Autoren zusammen, und die von ihm mitverantworteten Vorworte, Einleitungen und Danksagungen sind Ausweis dessen, wie gut es gelang, die vielen unterschiedlichen Handschriften doch zu einem spannenden Ganzen zu vereinigen.
Wer so arbeiten will, muss sie alle kennen, die da für die Mitarbeit gewonnen werden sollen, und tatsächlich: Nakath kannte sie alle. Viele schon von seiner Zeit an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der er in der DDR Geschichte und Völkerrecht studierte und von 1978 bis 1989 als Assistent, Oberassistent und Dozent und in den „Wende“-Jahren 1990/91 als stellvertretender Direktor des Instituts für Geschichtswissenschaft tätig war; andere von den Projekten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die er in den 1990er Jahren mitentwickelte. Die Listen der Autorinnen und Autoren der Handbücher sind ein Wer war wer? der DDR-Geschichtswissenschaft. Von 2003 bis 2006 war Nakath wissenschaftlicher Mitarbeiter bei „Helle Panke e. V.“, dem Berliner Zweig der Rosa-Luxemburg-Stiftung, und von 2006 bis 2015 Geschäftsführer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg. Aber nicht erst dann, sondern schon von den 1990er Jahren an gehörte er zu den Organisatoren von herausragenden Bildungsveranstaltungen dieser PDS- und dann LINKE-nahen Stiftungen– so etwa in Potsdam der jährlichen Kolloquia zur Deutschland- und Außenpolitik. Dass diese wie manche andere Beratungen auch für die Nachwelt in Broschürenform dokumentiert sind, ist ohne Nakath kaum denkbar.
Die Bücher und Broschüren, an denen Detlef Nakath mitwirkte, sind nicht in den großen bürgerlichen Verlagen des Landes erschienen. Neben dem Karl Dietz Verlag Berlin finden sich etwa der Schkeuditzer Buchverlag oder der Potsdamer WeltTrends Verlag. Das könnte für manche und manchen ein Grund sein, ihre Bedeutung zu unterschätzen. Davor sei ausdrücklich gewarnt. Das Desinteresse der Bürgerlichen hat nichts mit mangelnder Qualität der Nakathschen Arbeit zu tun, sondern mit ihrem eigenen Widerwillen, sich den Anschluss der DDR an die BRD, wie er sich seit 1990 vollzogen hat, tatsächlich als Vereinigung zu denken: als das Zusammenkommen also zweier wirklich gleichberechtigter Gesellschaften und Staatswesen, die vierzig Jahre lang auf sowohl gegensätzliche wie zugleich immer eng aufeinander bezogene Weise Bestandteile des Weltgeschehens waren und an ihm teil hatten.
Aber genau das – ein Verständnis dafür zu entwickeln, was es nun eigentlich auf sich hat mit der Vorgeschichte und Geschichte dieser „Vereinigung“ – war Nakaths Antrieb, und bedeutende Leute in Ost und West haben das sehr zu schätzen gewusst. Dazu Nakath selbst (in der Danksagung zu seiner Monographie Deutsch-deutsche Grundlagen. Zur Geschichte der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik in den Jahren von 1969 bis 1982 (396 Seiten, Schkeuditz 2002): „Mein besonderer Dank gilt Prof. Egon Bahr, der mir in mehreren Gesprächen in Bonn, Königswinter und Berlin Rede und Antwort zu den vielen Fragen über die Geschichte der Beziehungen der Bundesrepublik zur DDR stand und seine Sicht und seine persönlichen Erfahrungen sehr detailliert vermittelte. Am 20. September 1999 konnte ich in Hamburg ein fast dreistündiges äußerst aufschlussreiches Gespräch mit Altbundeskanzler Helmut Schmidt führen.“ Es folgen die Namen Ernst-Günter Stern, langjähriger Leiter der „Gruppe Deutschlandpolitik“ im Bundeskanzleramt, Peter Bender, Journalist und Historiker, und aus der DDR Prof. Herbert Häber, Leiter der Westabteilung der SED, und Karl Seidel, Abteilungsleiter im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Wie Nakath in Potsdam Hans Modrow und Egon Bahr auf eine Bühne gebracht hat, wird den Beteiligten unvergesslich bleiben.
Aus der Fülle der Arbeiten soll hier noch auf zwei Broschüren verwiesen sein, die Nakath im Ergebnis entsprechender Tagungen gemeinsam mit Dörte Putensen herausgegeben hat: Der Weg in die deutsche Einheit. Die Sicht der Nachbarn (Potsdam 2010) und Unrechtsstaat DDR? Sichtweisen in europäischen Nachbarländern (Potsdam 2012). Stimmen aus Polen, Finnland, Israel und den USA finden sich dort ebenso wie Gedanken von Jean Mortier aus Paris, mit dem Nakath jahrzehntelang verbunden gewesen ist. Und noch ein wichtiges Werk markiert den Lebensweg des Detlef Nakath: der Protokollband Außerordentlicher Parteitag der SED/PDS vom 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, herausgegeben mit Lothar Hornbogen und Gerd-Rüdiger Stephan in Zusammenarbeit mit Manfred Meineke und Marga Voigt (464 Seiten, dietz berlin 1999).
Es ist von seltsamer Symbolik: Detlef Nakath, der sich die deutsch-deutschen Beziehungen zum Lebensthema gemacht hat, ist in die Geburt der DDR hineingeboren und am 3. Oktober 2021, der 31. Wiederkehr des „Tages der deutschen Einheit“, kurz vor dem 72. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober, gestorben. Mit seiner Forschung sind Maßstäbe gesetzt.
Schlagwörter: BRD, DDR, Detlef Nakath, Geschichtswissenschaft, Wolfram Adolphi