24. Jahrgang | Nummer 20 | 27. September 2021

Malamuds „Mieter“ nach fünfzig Jahren

von Mario Keßler

Bernard Malamuds Roman „The Tenants“ („Die Mieter“), den Annemarie Böll übersetzte, erschien vor fünfzig Jahren im September 1971, 1973 dann auf Deutsch, 1976 auch in der DDR. Malamud (1914–1986) schrieb damit nach dem fünf Jahre zuvor erschienenen Roman „Der Fixer“ erneut ein Meisterwerk mit politischem Hintergrund. Doch während der im zaristischen Russland spielende „Fixer“ den Triumph der Aufklärung über den Antisemitismus zeigt, muss der im New York der damaligen Gegenwart handelnde Roman „Die Mieter“ mit seiner tragisch endenden Handlung als Warnungstafel verstanden werden: An einem auf zwei Personen zusammengedrängten Konflikt demonstriert der Autor auf das Eindringlichste die Absurdität ethnischer Vorurteile, die zuerst verdrängt werden, um sich schließlich dramatisch zu entladen, was den Tod beider Protagonisten zur Folge hat.

Dies ist die Handlung des Romans: Zwei Männer, von denen der eine, Harry Lesser, seine Miete zahlt, und der andere, Willie Spearmint, illegal wohnt, leben als einzige übrig gebliebene Personen in einem zum Abriss bestimmten Haus in einem ärmeren Teil von Manhattan. Lesser ist ein früher erfolgreicher Schriftsteller, der mit seinem dritten Roman indes unter Zeitdruck steht, um die Miete und die übrigen Verbindlichkeiten zu begleichen. Spearmint steht mit seinen literarischen Versuchen noch am Beginn schriftstellerischen Arbeitens. Lesser ist weiß, Spearmint schwarz. Zudem ist Lesser Jude.

Zwischen beiden entsteht eine zunächst vom gegenseitigen Misstrauen bestimmte, dann aber immer engere Beziehung, die jedoch die Spannungen nicht aufhebt: Spearmint fühlt sich Lesser unterlegen und sucht dies durch grobe, auch antisemitische Ausdrücke wie durch lockere Sprüche zu kaschieren. Der Weiße reagiert darauf teils ängstlich, teil voller Mitleid wie zu einem ungebärdigen Kind. Er sagt dem Schwarzen, dessen Geschichten voller Leidenschaft bedürften einer besseren Technik.

Die Situation eskaliert, als Lesser Spearmints weiße Freundin verführt. Aus Rache zerstört Spearmint Lessers halbfertiges Romanmanuskript, worauf dieser den Roman neu zu schreiben sucht. Auch Spearmint schreibt, ohne dass jedoch Substanzielles herauskommt. Das Klappern der beiden Schreibmaschinen wirkt wie eine bedrohliche Begleitmusik des gegenseitigen Hasses, der sich in beiden aufbaut. Schließlich bringen sie einander um.

„Jeder von uns, dachte der Schriftsteller, fühlt die Qual des anderen“, ist Lessers letzter Gedanke. Im Roman herrsche Weltuntergangsstimmung, schrieb François Bondy in der Zeit. Konnte der Moralist Malamud in früheren Werken zeigen, wie leidgeprüfte Menschen ihre Würde behaupten, so weise er diesmal keinen Weg. Der Verfall des Hauses, die mörderische Steigerung eines „Rassenkonflikts zu zweit“ – sie wirkten wie eine verzweifelte Vision der Stadt New York, die halb Steppe und halb Dschungel sei.

In der New York Times schrieb Morris Dickstein, bisher habe sich noch kein Außenstehender an eines der großen Themen unserer Zeit herangewagt: „die kulturellen und psychologischen Umwälzungen, die durch das Aufleben von Nationalismus, Separatismus und Rassenstolz unter den Schwarzen verursacht werden und die unser aller Leben beeinflussen“. Malamud, dessen Hinwendung zu diesen Problemen dennoch überraschend komme, habe sich von seiner jüdischen Erfahrungswelt her schon immer für jene Leidenschaften und Perversitäten interessiert, „die die Menschen dazu bringen, sich wie Figuren in Volksmärchen und Opern zu verhalten“.Einen problematischen Aspekt nannte Israel Shenker in der New York Times Book Review: Malamud halte es für selbstverständlich, dass ein weißer Schriftsteller Aspekte der schwarzen Erfahrung darstellen könne. In der Tat lebt die Figur des Willie Spearmint nur durch die Gefühle und Gedanken, die Lesser über ihn äußert.

Am Ende des Romans, während Lesser und Spearmint einander die Todeswunden zufügen, taucht der jüdische Vermieter auf und schreit um Erbarmen (Rachmones). Im Commentary beschrieb Jacob Korg dies „als erschütterndes Eingeständnis Malamuds“, wonach „eine Lösung des Hasses zwischen Willie und Lesser nicht denkbar ist.“ Die von Malamud dargestellten Leidenschaften seien der romanhaften Kontrolle entglitten, aus ihrem fiktionalen Rahmen ausgebrochen und würden die Vorstellungskraft lähmen.

Verschiedene Kritiker haben auf den Gegensatz zwischen dem „Fixer“ und „Die Mieter“ verwiesen. Ende der frühere Roman mit dem Freispruch eines des Ritualmords angeklagten Juden, so sei dieser trotzige Optimismus aus Malamuds neuem Werk vollständig verschwunden. In der Tat widerspiegelt dieser Wandel den radikal geänderten Zeitgeist, vor allem in Bezug auf die Beziehungen zwischen Schwarzen und Juden in Amerika. Anfang und Mitte der sechziger Jahre, als Malamud den „Fixer“ schrieb, waren es vor allem jüdische Aktivisten, die den Afroamerikanern im Kampf um ihre Bürgerrechte zur Seite standen und zusammen mit ihnen von den Faschisten des Ku Klux Klan ermordet wurden. Im „Fixer“ stehen die russischen Bauern, die schließlich ihren Antisemitismus überwinden, stellvertretend für die Schwarzen, die um Erwerb nach Bildungsgütern ringen und dadurch die ihnen eingetrichterten Vorurteile hinter sich lassen.

1971 hatten sich die Beziehungen zwischen Schwarzen und Juden vollständig geändert. Es begann 1966, als die Weißen, darunter viele Juden, aus dem antirassistischen Studentenbund SNCC (Student Nonviolent Coordinating Commitee) ausgeschlossen wurden, dieses selbst sich vom Grundsatz der Gewaltlosigkeit zugunsten eines radikalen schwarzen Nationalismus verabschiedete. Der israelisch-arabische Krieg vom Juni 1967 sah schließlich jüdische und schwarze Linke auf gegensätzlicher Seite: Die Juden sahen im israelischen Angriff auf seine arabischen Feinde einen Präventivschlag, der die Gefahr der Vernichtung Israels abwendete. Für die Schwarzen waren die Palästinenser als Hauptopfer des Krieges synonym mit den in Vietnam vom US-Imperialismus ermordeten Freiheitskämpfern und Zivilisten.

Dieser tragische Konflikt riss Gräben auf, die sich bis heute nicht schließen ließen. Im Extremfall und doch exemplarisch zeigt sich dies am Weg zweier einst progressiver Persönlichkeiten, die gegen Imperialismus und Rassismus zusammenstanden: David Horowitz und Angela Davis. Der aus einer kommunistischen Familie stammende Horowitz – er beschrieb seinen Weg in der Autobiographie „Radical Son“ – betreibt heute eine Website, die voll von unverhüllt rechtsradikalem Gedankengut ist. Sie bietet auch den militantesten Kräften der israelischen Siedlerbewegung immer wieder Gelegenheit zur chauvinistischen Propaganda.

Angela Davis sieht sich hingegen noch immer als radikale Linke. Doch wo ist ihr Internationalismus geblieben? In ihrem Buch „Freedom is a Constant Struggle“ entwarf sie 2015 das Bild vom Zionismus als allumfassender Verschwörung; „seine Krakenarme (tentacles) reichen bis in die schwarze Kirche, und es gab direkte Bemühungen seitens des Staates Israel, wichtige Persönlichkeiten zu rekrutieren.“ Sie unterstützt die Boykottbewegung gegen israelische Künstler und Wissenschaftler, unabhängig von deren politischer Haltung. Andererseits hat die Black Lives Matter-Bewegung einen Denkprozess in Gang gebracht: Zahlreiche schwarze Künstler haben sich für frühere antisemitische Bemerkungen öffentlich entschuldigt.

Diese Künstler haben das Kernproblem begriffen: Wer die Werte der Aufklärung und des Internationalismus zugunsten einer alle anderen ausschließenden, sich immer mehr radikalisierenden Identitätspolitik aufgibt, zerstört schließlich nicht nur alle Bindungen zu anderen Menschen jenseits der eigenen Sekte, sondern endet in der Selbstzerstörung. Gerade deshalb sind „Die Mieter“ von Bernard Malamud ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen noch immer ein bestürzend aktuelles Buch.

Die neueste deutsche Ausgabe: Bernard Malamud, Die Mieter. Roman, übersetzt von Annemarie Böll, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 256 Seiten, 14,99 Euro.