24. Jahrgang | Nummer 19 | 13. September 2021

Warschau einmal anders

von Jan Opal, Gniezno

Nebst Prag ist Warschau diejenige unter den europäischen Hauptstädten, die von Berlin aus am schnellsten und bequemsten zu erreichen ist. Ein Katzensprung geradezu, egal welches Verkehrsmittel für den Weg auch gewählt wird. Warschau, an Einwohnerzahl halb so groß wie Berlin, hat sich in den Jahren seit dem EU-Beitritt Polens ohne jeden Zweifel gemausert, ist zu einem der wichtigsten Dienstleistungszentren im östlichen Teil der Gemeinschaft aufgestiegen. Insofern kann es auch mit wichtigen ökonomischen Werten glänzen, so etwa bei der Arbeitslosigkeit, die als ein strukturelles Problem dort an der Weichsel seit vielen Jahren völlig unbekannt ist. Während noch vor zehn, fünfzehn Jahren junge Menschen aus strukturschwächeren Gegenden Polens vor allem den Weg nach Westen nahmen, um Lohn, Brot und Zukunft für sich zu finden, sind jetzt die großstädtischen Ballungszentren und insbesondere die Hauptstadt ein immer stärkerer Magnet.

Noch vor Jahren galten die Verhältnisse im öffentlichen Nahverkehr Berlins als beispielgebend, denn jeder Warschauer, der von einem Berlin-Besuch zurückgekehrt war, schwärmte geradezu vom leistungsfähigen Massenverkehr dort an Havel und Spree. Hätte es damals eine Rangliste gegeben, was Besucher aus Warschau an Berlin besonders anzieht, so hätte der öffentliche Verkehr jahrelang obenan gestanden. Mittlerweile ist die Wahrnehmung durchaus eine andere, denn Warschau hat seine an sich günstigen Voraussetzungen für öffentlichen Verkehr entschieden ausgebaut, kann in vielerlei Hinsicht als vorbildlich gelten. Keine andere europäische Hauptstadt kann auf ein derart leistungsfähiges Straßenbahnnetz verweisen wie Warschau. Ohnehin gehört das Schienennetz der Straßenbahn in der Stadt seit jeher zu den längsten überhaupt. Mit dem Wiederaufbau nach 1945 kamen die separaten Trassen hinzu, so dass außer an den Kreuzungen kaum noch ein Kraftahrzeug der Bahn auf dem Gleis im Wege stehen kann. Wer einmal in Brüssel zu Stauzeiten die Straßenbahn nutzte, weiß ein Liedchen davon zu singen, welchen Segen getrennte Schienentrassen bedeuten.

Zuletzt wurde mit üppigen EU-Mitteln der Fahrzeugpark aufgerüstet, der nun zu den modernsten in Europa zählt. Die Warschauer Straßenbahn, vor Jahren noch schier undenkbar, ist zu einem Symbol für Pünktlichkeit und Schnelligkeit geworden. Die Tatsache, dass die polnische Hauptstadt ein überdurchschnittlich langes Straßenbahnnetz besitzt, hängt auch zusammen mit den geologischen Bedingungen, die den Bau von U-Bahn-Linien aus Kosten- und sonstigen Gründen für lange Zeit aufgehalten haben. Jetzt gibt es zwei Linien, die erste – in Nord-Süd-Richtung – wurde 1995 im ersten Abschnitt eingeweiht und 2008 auf der gesamten Länge fertiggestellt. Die zweite Linie – in Ost-West-Richtung – wird im zentralen Teil seit 2015 befahren und soll im nächsten oder übernächsten Jahr in ganzer Strecke dem Verkehr übergeben werden. Da die Trassen mehr oder weniger schnurgerade verlaufen, sind auch hier Schnelligkeit und Zuverlässigkeit allgemein geschätzte Trümpfe.

Anders als in Berlin spielt das Wasser als Transportweg kaum noch eine Rolle. Die paar Touristenboote, die sommers den einen oder anderen kurzen Kurs auf der Weichsel einschlagen, sind nicht der Rede wert. Während also in Berlin die Weiße Flotte in den Flussarmen und Kanälen der Stadt über große Zeiträume des Jahres Parade abhält, bleibt Warschau eine Stadt, die eher vom Fluss abgekehrt lebt. Dafür hat sie aber etwas, was es im Westen kaum gibt: Einen nicht begradigten oder eingefassten Flusslauf mit natürlichen Auen rechts und links an beiden Ufern. Dem Begehren derjenigen, die hier gerne ihr Geschäft machten, konnte bislang erfolgreich Einhalt geboten werden. Die aufgeregte Diskussion um Klimaschutz oder vermehrt auftretenden Starkregen wird ohnehin jetzt verhindern, dass ein falscher Fortschrittsglaube sich am natürlichen Flusslauf versündigt. Und so bleibt der Blick auf die Weichsel auch weiterhin ein Hinweis, wie weit nach Osten es den Reisenden eigentlich bereits getragen hat. Um einen guten Vergleich zu wagen, so bietet, was den Flusslauf betrifft, Warschau das genaue Gegenteil dessen, was in Budapest, Prag oder eben in Berlin zu besehen ist.

Wer durch die Stadt geht, wird indes bald bemerken, wie homogen alles wirkt, denn überall scheint der gleiche Menschenschlag zu wohnen. Ein Kreuzberg würde vergeblich gesucht werden, ein Neukölln ist genauso wenig zu finden. Und dennoch hat sich auch Warschau zuletzt spürbar verändert. Es ist ein großer Zuzug zu verspüren aus der Ukraine, zuletzt auch immer stärker aus Belarus, vor allem von jungen Menschen, die in der ersten Metropole hinter der Grenze zur EU eine Chance für das weitere Leben suchen. Die sprachliche und kulturelle Nähe ist ein entscheidender Vorteil, der oft genug für Warschau spricht. Wie schnell die Eingewöhnung erfolgt, ist überall im Dienstleistungsbereich der wuselnden Stadt zu spüren, wenn der Kunde auf den im Polnischen angenehm klingenden östlichen Akzent stößt. Das sind Nuancen, die der Besucher aus dem Westen natürlich kaum mitbekommt, aber sie gehören fest zu dem, was das Warschau von heute ausmacht. Auch das ist eine direkte Folge der EU-Mitgliedschaft Polens, denn aus Sicht vieler Menschen aus den östlichen Nachbarländern gelten ökonomische, soziale wie menschliche Verhältnisse dort immer mehr als anziehend.