Die aufstrebende Großmacht Indien muss durch den heftigen Verlauf der Corona-Pandemie heftige Rückschläge einstecken. Insbesondere wirtschaftliche und soziale Probleme verschärfen sich, niemand weiß, wie die Zukunft des Landes aussehen wird. In der Öffentlichkeit ist wenig von dem früher vorherrschenden Optimismus zu spüren. Sorge bereitet, dass die hindunationalistische Regierung Modi der Entwicklung weitgehend tatenlos gegenübersteht.
Die Wirtschaftsleistung des Landes ist stark zurückgegangen. Infolgedessen hat sich die Arbeitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Die Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung nimmt zu, während andererseits der Reichtum der Oberschicht weiter wächst. Neueste Zahlen von Forschungsinstituten geben für 2020 an, dass die Zahl der in die Armut zurückgefallenen Menschen 230 Millionen Menschen beträgt. Die „demografische Dividende“ – der Reichtum an jungen Arbeitskräften – droht sich nach Meinung von Experten in ein „demografisches Desaster“ umzukehren, denn jährlich drängen weitere zehn Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt. Gebeutelt sind nicht nur die unteren Schichten der Bevölkerung, sondern auch die aufstrebende Mittelklasse, der wirtschaftliche Hoffnungsträger des Landes. Sie hat sich nach Berechnungen um 32 Millionen Menschen verringert.
Im Gegensatz dazu steigt der Reichtum der Oberschicht. Die Zahl der indischen Milliardäre stieg 2020 auf 140 an, nach den USA und China damit weltweit an dritter Stelle liegend. Und hinter dem reichsten Asiaten, Mukesh Ambani mit einem Vermögen von 84,5 Milliarden US-Dollar hat sich Gautam Ambani als zweiter Inder mit 50,5 Milliarden US-Dollar platziert. Vor einigen Wochen erregte eine Verkaufsaktion der Mercedes Benz AG die Gemüter. Mitten in der Corona-Krise, als die Menschen mangels medizinischer Versorgung zu Tausenden hinweg starben, wurden 200 Luxusautos des neuen Modells Maybach GLS 600 angeboten. Die Exemplare, die zum Stückpreis von 400 000 US-Dollar bis Ende des Jahres vertrieben werden sollten, waren nach kurzer Zeit verkauft.
All diese Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2020 mit seiner ersten Corona-Welle. Gegenwärtig befindet sich das Land noch in der zweiten Welle mit seinem schweren Verlauf. Eine Erholung der wirtschaftlichen Lage hat noch nicht eingesetzt, aber schon werden von Weltbank und Ratingagenturen Wachstumsraten von acht bis neun Prozent verkündet. Dabei sind 16 Prozent der Bevölkerung erst einmal und nur 3,6 Prozent zweimal geimpft (Stand: dritte Juniwoche). Die Sorge vor einer dritten Corona-Welle nimmt zu.
Ohne Zweifel wird sich diese Situation auf die Gestaltung des politischen Geschehens in Indien auswirken. Doch wie das innenpolitische Kräfteverhältnis berührt wird, besonders hinsichtlich der Stellung der Modi-Regierung, ist ungewiss.
Auch die Gestaltung der Außenpolitik des Landes gerät unter Druck. Sie muss sich nicht nur den innenpolitischen Zwängen stellen, auch die Veränderungen und Umgruppierungen auf internationalem Gebiet verlangen ein Überdenken bisheriger Strategien. Neue Situationen erwachsen beispielsweise durch die weiter wachsende Stärke des großen Nachbarn China, aber auch durch die Politik der USA zur Isolierung Chinas und Russlands. Welche Probleme dabei auf das Land zukommen könnten, machte ein Leitartikel in der Times of India nach dem Treffen von Präsident Biden mit Präsident Putin deutlich.
Die bekannteste und angesehenste indische Tageszeitung nannte ihren redaktionellen Artikel: „Neu Delhis Trilemma: Eine der größten Herausforderungen für Indien wird sein, wie es seine Interessen im USA-China-Russland Spiel vertritt“. Der Leitartikler borgte sich den aus der Philosophie und Wirtschaftstheorie stammenden Begriff Trilemma aus, um zu zeigen, dass die indische Diplomatie aus drei ungünstigen Möglichkeiten eine auswählen muss. Im konkreten Fall handelt es sich um die Beziehungen Indiens zu den USA, zu Russland und zu China. Gegenwärtig sind die Beziehungen zu China äußerst angespannt und die zu den USA nicht problemfrei. Mit Russland gibt es auf militärisch/technologischem Gebiet eine enge Kooperation, auch die politische Zusammenarbeit läuft mit einigen Abweichungen zufriedenstellend. Indien befürchtet nun, dass durch die unnachgiebige Haltung der USA Russland gegenüber das Land zu einer verstärkten Zusammenarbeit, wenn nicht gar zu einem Bündnis mit China gedrängt wird. Chinas Einfluss auf Russland hätte dann zweifelsohne negative Folgen für die Zusammenarbeit Russlands mit Indien, insbesondere bei der Lieferung sensibler Rüstungsgüter und des Transfers entsprechender Technologien. Auch die Indien begünstigende Haltung Russlands zu Pakistan und Afghanistan könnte sich unter dem Einfluss Chinas ändern. Indien – so der Leitartikel der Times of India – befürchtet das Entstehen von zwei geostrategischen Polen – einerseits die USA und weitere westliche Staaten, andererseits China, verbündet mit Russland.
Das wäre ein Szenario, das sich Indien nicht wünscht. Es wäre von Russland abgekoppelt und müsste verstärkten Druck Chinas aushalten. Der Ausweg wäre nur ein verstärktes Zusammengehen mit den USA, was allerdings eine wachsende Abhängigkeit befürchten ließe. Eigene Gestaltungsmöglichkeiten wären begrenzt, wenn nicht gar unmöglich. Damit würde „Indiens Raum zu Manövern eingeengt“, schreibt die Zeitung.
Insgesamt also eine Vision, die Indien nicht möchte, ja letztendlich fürchtet. Und so hofft der Verfasser des Artikels, dass es weltpolitisch nicht zu einer Konstellation kommt, in der die US-Politik Russland zu einem Bündnis mit China treibt.
Strategische Überlegungen, wie sie der Leitartikler der Times of India anstellt, haben natürlicherweise immer etwas Abstraktes und leicht Spekulatives an sich. Zu viele Faktoren können in ihrer zukünftigen Wirkung nicht oder nur schwer eingeschätzt werden. Doch sie sind notwendig, um vorausschauend Entwicklungstendenzen auszumachen und sich schnell auf sie einzustellen. Hier wird das Treffen der Präsidenten der USA und Russlands zum Anlass genommen, um gewissermaßen einen Weckruf an die indische Außenpolitik zu senden.
Diese strategischen Überlegungen lassen einen tieferen Blick in die Gestaltung der indischen Außenpolitik zu. Es wird deutlich, dass es für eine aufstrebende Macht, die ihre Eigenständigkeit behalten möchte, immer schwieriger wird, sich im Gerangel der Großmächte zu positionieren. Das „Manövrieren“ zwischen den Mächten und Gruppierungen, das die indische Außenpolitik oft auszeichnete und ihr Vorteile einbrachte, würde unter den neuen, befürchteten Bedingungen kaum noch möglich sein. Deutlich wird auch, dass Indien auf einen verlässlichen Partner wie Russland nicht verzichten kann. Durch die machtpolitischen Bestrebungen der USA sieht Indien diese Verbindung allerdings in Gefahr. Und noch eine interessante Feststellung, die ganz dem nationalistischen Charakter der indischen Außenpolitik entspricht: der Verfasser sähe es am vorteilhaftesten für sein Land, wenn die USA sich ausschließlich auf China konzentrieren würden, da dieses – so die Argumentation – anders als Russland die wirkliche Herausforderung für die USA sei.
Trilemma oder Dilemma – Indien wird in diesem Jahr noch Gelegenheit haben, mit den hauptsächlichen Akteuren dieser strategischen Konstruktion ausführlichen Kontakt zu haben. Sowohl der chinesische als auch der russische Präsident werden im Herbst diesen Jahres anlässlich des Gipfeltreffens der BRICS-Staaten, das Indien ausrichtet, im Land weilen. Entsprechende Zusagen liegen vor. Auch Präsident Biden spricht von einer erneuten Zusammenkunft der fünf Regierungschefs der Quad-Gruppierung, die sich nach eigener Aussage um die Sicherheit im Indo-Pazifik bemüht. BRICS und Quad haben unterschiedliche, ja gegensätzliche Zielstellungen – als einziges Land gehört Indien beiden Gruppierungen an. Eine Verschärfung der internationalen Lage würde der indischen Diplomatie wohl mehr als einen Spagat abverlangen.