Seit Mitte der 1970er Jahre erscheint regelmäßig im April oder Mai ein „Memorandum“ der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Es gilt als Gegenentwurf zum Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (der sogenannten fünf Wirtschaftsweisen), das jeweils im November der Öffentlichkeit vorgelegt wird. Das „Memorandum“ beinhaltet sowohl eine wissenschaftlich begründete Kritik der Auffassungen des Sachverständigenrates als auch Alternativen zu den geäußerten wirtschaftspolitischen Vorschlägen. Da die Mehrheit der Bevölkerung ein kritisches Verhältnis zu den sich einseitig an den Verwertungsinteressen des Kapitals orientierenden Vorschlägen der „Wirtschaftsweisen“ besitzt, kommt dem „Memorandum“ als Gegenentwurf eine aufklärerische und die Macht des Kapitals nachdrücklich infrage stellende Bedeutung zu. Das „Echo“ hierauf fällt in den einzelnen Jahren jedoch recht unterschiedlich aus. 2021 aber ist ein Wahljahr. Dies nährt die Hoffnung, dass sich diesmal ein größerer Kreis alternativer Interessenten findet und die im „Memorandum“ entwickelten Thesen und Vorschläge eine breite Resonanz erfahren.
Natürlich ist die Covid-19-Pandemie, welche die Welt nun schon seit mehr als einem Jahr in ihrem Würgegriff hält, auch hier das übergreifende Thema. Im Zentrum steht jedoch nicht die dadurch hervorgerufene Krise, sondern die Frage, was nach der Überwindung der Pandemie sein wird. Wird es, wie Bundeswirtschaftsminister Altmaier es formulierte, eine Rückkehr zu „dem Zustand, wie es ihn vor der Pandemie gegeben hat“, geben oder wird die Pandemie als Chance begriffen, die als notwendig erachtete Transformation der Produktions-, Konsumtions- und Lebensweise, von der seit Jahrzehnten die Rede ist, deren konkreter Vollzug aber aussteht, endlich einzuleiten.
Die Verfasser des „Memorandums“ lassen keinen Zweifel daran, dass die Pandemie derzeit nur ein Problem unter vielen ist und dass sich in der Folge ihrer Bewältigung unsere Gesellschaft nachhaltig verändern wird. Der nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von einem beachtlichen Teil der Bevölkerung gehegte Wunsch, demnächst zu einem Zustand zurückzukehren, wie er vor der Pandemie bestanden hat, ist eine Illusion. Zugleich aber auch eine große Gefahr. Ein solches „zurück“ darf es nicht geben! Denn nichts wäre verheerender als eine Rückkehr zu dem überholten Produktionsmodell und dem expansiven Wachstumspfad, welche die Welt in die ökologische und soziale Krise geführt haben.
Die Verfasser des „Memorandums“ sehen als Alternative hierzu den forcierten Übergang zur sozial-ökologischen Transformation. Es lässt sich allerdings auch nicht ausschließen, dass durch die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung die demokratischen Strukturen weiter erodieren und die politische Landschaft gravierenden Veränderungen und Deformationen unterworfen wird. In vielen Ländern hat sich gezeigt, dass die Wege aus der Corona-Krise nur über einen handlungsfähigen Staat führen. Dabei wurde aber auch deutlich, dass das föderale System der Bundesrepublik Deutschland und die strukturelle Verfasstheit der Europäischen Union nicht immer und nicht auf allen Gebieten von Vorteil sind. Ferner haben politische Willkür, Inkompetenz der Verantwortlichen und wahltaktische Manöver für Unverständnis bei der Bevölkerung gesorgt und bei der Bekämpfung der Krise zu Fehlern und Verzögerungen geführt.
Hinzu kommt die ungelöste Kosten- und Finanzierungsfrage. Da die große Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler in Deutschland, ebenso wie die der Medienvertreter, ein eher konservatives Gesellschaftsbild besitzt und folglich an Hindernissen und Hemmnissen für ein entschlossenes Handeln wie der „Schuldenbreme“ im Grundgesetz festhält, ist es zu begrüßen, dass die Autorinnen und Autoren des „Memorandums“ hier eine entgegengesetzte Position vertreten und diese auch begründen. Zugespitzt wird im Text formuliert, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst unter Krisenbedingungen kein Schuldenproblem hat, sehr wohl aber ein Problem mit der Schuldenbreme.
Dies beweist insbesondere der Anteil der Zinszahlungen des Staates an den Steuereinnahmen, die sogenannte Zins-Steuer-Quote. Während diese 1992 noch bei 14 Prozent lag, betrug sie 2020 nur drei Prozent. Da das Zinsniveau weiter niedrig sein wird, ist die Tragfähigkeit einer höheren Staatsverschuldung ohne Einschränkungen gegeben. Darüber hinaus wird im „Memorandum“ für eine einmalige Vermögensabgabe zur Finanzierung besonderer Krisenbewältigungskosten plädiert. Ferner wird ein gigantisches Investitionsprogramm angeregt, um die großen Herausforderungen des ökologischen Umbaus zu finanzieren. Zudem müsse der Investitionsstau in den Kommunen überwunden werden, wofür es bisher aber nicht einmal einen Plan gibt.
Bemerkenswert ist, dass die Autorinnen und Autoren die Auswirkungen und die Herausforderungen der Umwelt- und Klimakrise für wesentlich größer halten als die gegenwärtig im Fokus stehenden Belastungen durch die Corona-Pandemie. Letztere dürfen kein Grund dafür sein, den Ausstieg aus der „alten“ Wirtschaftsweise zu verzögern und den Umstieg auf eine „neue“ Wirtschafts-, Konsumtions- und Lebensweise zu bremsen. Ganz im Gegenteil!
Vergleicht man die im „Memorandum“ aufgezeigten Wege, Möglichkeiten und Alternativen mit der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die bundesdeutsche Politik in ihrer jetzigen Verfasstheit den vor ihr stehenden Herausforderungen nicht wirklich gewachsen ist. Ob sich dies nach den Bundestagswahlen im Herbst ändern wird, ist ungewiss. Aber selbst wenn es infolge der Wahlen zu Veränderungen in der Zusammensetzung der Regierung kommen sollte, so werden diese wohl kaum zu einer Wirtschaftspolitik führen, wie sie die Memorandum-Gruppe konsequenterweise fordert. Bestenfalls sind erste Schritte in die richtige Richtung zu erwarten. Aber selbst dies wäre schon viel, angesichts der aufgestauten Probleme und der eingetretenen Verzögerung der Transformation.
Schlagwörter: Krise, Pandemie, Transformation, Ulrich Busch, Wirtschaft