23. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2020

Der Krug der Witwe, das Fiatgeld und die Verrücktheiten der Ökonomie

von Jürgen Leibiger

Im Alten Testament wird erzählt, der hungernde Prophet Elias habe eine arme Witwe gebeten, ihm von ihrem Mehl und Öl etwas zu backen. Sie wandte ein, dann reiche es nicht mehr für sie und ihren Sohn. Er soll geantwortet haben: „Fürchte dich nicht! Denn der Herr spricht: Das Mehl im Topf soll nicht verzehrt werden, und dem Ölkrug soll nichts mangeln bis auf den Tag, an dem der Herr es regnen lassen wird auf Erden.“ Will sagen: Sooft sie Mehl und Öl verbrauche, Topf und Krug würden immer wieder gefüllt. Das Ganze hat, schenkt man der Bibel Glauben, auch prima funktioniert.

John M. Keynes benutzt diese Erzählung 1930 in „A Treatise on Money“ als Metapher für seine nachfrageorientierte Theorie, wonach auch die Geldausgaben der Unternehmer für Konsum wieder Gewinne ermöglichten, da sie sich in Nachfrage verwandeln und die Produktion erneut angeschoben würde. Der Krug füllt sich, wenn er vorher geleert wurde. Würden Teile des Gewinns gespart, also nicht ausgegeben und in Nachfrage verwandelt, würde der „Krug zu einem Fass der Danaiden, das nie gefüllt werden kann“. Wird das gesamtwirtschaftliche Einkommen teilweise gespart, also dem Kreislauf entzogen, kann sich die Volkswirtschaft nicht vollständig reproduzieren. Obwohl das die Gewinnentstehung nicht erklärt und auch ignoriert wird, dass die Produktion nicht nachfrage- sondern profitorientiert ist – weshalb es Überproduktion im Verhältnis zur Nachfrage gibt – ist das eigentlich eine Binsenweisheit, die lange vor Keynes bekannt war.

Dem biblischen Propheten lag freilich nichts ferner, als eine Kreislauftheorie zu entwickeln. Bei ihm werden Öl und Mehl weder bezahlt noch produziert. Gott sei es, der Topf und Krug füllt; er sei allmächtig und voller Gnade. So, wie er verkünden könne, „fiat lux“, „es werde Licht“, so könne er eben auch Nahrung aus dem Nichts schaffen. Voodoo-Economics.

Wenn in einer Krise wie heute die Gewinne ausbleiben und den Unternehmern damit die Basis entzogen ist, Nachfrage zu schaffen und auch die Arbeitseinkommen, die Nachfrage des Auslands sowie die steuerfinanzierten Staatsausgaben sinken, wird es schwierig mit dem Aufrechterhalten des Kreislaufes. Könnte man da den Gedanken der Bibel nicht aufgreifen und zwar nicht von Gott aus dem Nichts, aber vom Staat per Gesetz und auf Grundlage staatlicher Zahlungsversprechen geschaffenes Geld in den Kreislauf pumpen? Die Zentralbank gibt der Regierung für diese Schuldverschreibungen das neu geschaffene sogenannte Fiatgeld. Damit werden Staatsausgaben, Konsum und Investitionen bezahlt und die Wirtschaft kommt wieder in Schwung. Aber wie soll Schöpfung gehen ohne Gott? Nun, unter bestimmten Umständen geht es, und das hat nichts damit zu tun, dass auf dem US-Papier-Dollar „In God we trust“ steht. Es geht, weil der Staat das von ihm mittels Zentralbank geschaffene Geld per Gesetz zum Zahlungsmittel erklärt und alle oder fast alle aufgrund ihrer Erfahrungen dieses Geld als allgemeines Zahlungsmittel anerkennen. Solange diese Akzeptanz – die allerdings nicht voraussetzungslos ist (sic!) – gegeben ist und man mit diesem Geld wirklich Waren und seine Steuern bezahlen kann, wird das auch gutgehen. Wie bei der Verwandlung von Versprechen auf künftiges Einkommen in Kapital, fiktives Kapital, werden Schulden in Geld verwandelt. Verrückt, nicht wahr?

Die gewöhnliche Übersetzung von fiat money mit „Geld aus dem Nichts“ (fiat: lateinisch „es werde“) ist eigentlich nicht korrekt. Fiat ist im Englischen die Order, das Gebot oder die Ermächtigung. Der Begriff fiat money tauchte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in den geldpolitischen Diskussionen der USA auf und wurde als Synonym für lawful money oder legal-tender paper money (Papiergeld als gesetzliches Zahlungsmittel) verwendet. Vor allem die linkslastige Greenback Labour Party stritt damals nach der Krise von 1873 dafür, die im Bürgerkrieg emittierten inkonvertiblen, also nicht in staatliche Gold- oder Silberreserven umtauschbaren Papierdollar (sie wurden wegen ihrer Farbe Greenbacks genannt), beizubehalten und weiterhin keiner Gold- beziehungsweise Silberdeckung zu unterwerfen. Sie wollte damit die Grenzen einer gesetzlich vorgeschriebenen Metalldeckung aufheben, um eine expansive, wachstumsorientierte Geldpolitik zu ermöglichen. Die Gegner einer solchen Währungsreform bezeichneten das scheinbar nur auf einem Gesetzesakt beruhende Geld eher abwertend als fiat money und forderten ein edelmetallgedecktes, konvertibles Geld, ein honest money, „ehrliches“ oder „anständiges“ Geld. In der deutschen Ausgabe von Keynes‘ Arbeit „A Treatise …“ wurde fiat money mit „Willkür-Geld“ übersetzt. Es geht also nicht um „Nichts“, vielmehr geht es um die staatliche Macht, Papiergeld per Gesetz, „willkürlich“ zum Zahlungsmittel zu erklären. Diese Macht beruht keineswegs auf „Nichts“, sondern auf einer materiellen Grundlage, nämlich der Möglichkeit des staatlichen Zugriffs auf nationalen Reichtum und Wertschöpfung, letztlich auch auf Währungsreserven und zwar egal, ob es durch das gerade gültige Recht möglich oder nicht möglich ist. Gesetze lassen sich ändern; England suspendierte seine entsprechenden Gesetze mehrmals. Bezüglich der Geldpolitik, die in der Krise 1857 durch die Bank von England betrieben wurde, indem formal ungedecktes Geld emittiert wurde, wies Friedrich Engels im „Kapital“ darauf hin, die weitverbreitete Furcht davor, diese Noten könnten ihren Kredit (also das Vertrauen) verlieren, sei „eine sehr überflüssige Furcht“, weil „die gesamte Nation mit ihrem Kredit hinter diesen Wertzeichen“ stehe. „Gibt es etwas Verrückteres“, kommentierte Marx, ,,als z.B. die Bank von England […], deren Noten nur durch den Staat Kredit haben und die sich dann vom Staat […] in Form von Zinsen für Staatsanleihen bezahlen lässt für die Macht, die ihr der Staat gibt, diese selben Noten aus Papier in Geld zu verwandeln und sie dann dem Staat zu leihen?“

Auf den ersten Blick muten diese Äußerungen wie eine Bestätigung der vieldiskutierten Modern Monetary Theory (MMT) an, die sich zwar selbst als „kopernikanische Wende der Wirtschaftstheorie“ feiert, aber, wie man sieht, gar nicht so modern ist. Nach ihr könne der Staat mittels der Zentralbank unbegrenzt Geld aus dem „Nichts“ schaffen und ausschließlich damit seine Ausgaben finanzieren. Der perfekte Krug der Witwe, Krisen könnten ein für alle Mal überwunden werden, man müsse neben einer ausreichenden staatlichen Nachfrage nur genügend Fiatgeld schaffen. Nicht wenige linke Ökonomen sind überzeugt: die schwer verdaulichen Theorien von Wertschöpfung, Produktions- und Verteilungsverhältnissen, von Wertform, Geld, Kapital, Kredit und fiktivem Kapital könne man getrost ad acta legen; eine auf höhere Beschäftigung und Einkommen gerichtete Wirtschaftspolitik lasse sich mit der MMT und Fiatgeld begründen. Der gerade laufende Kinofilm „economia“ verspricht, die Geheimnisse des Geldes und des Kapitalismus zu enthüllen, indem man sich, so wörtlich, in dessen „Maschinenraum“ begibt. Die Filmcrew steigt in den Fahrstuhl und fährt in die Führungsetage einer Bank. Alles aus Glas und scheinbar transparent. Auf die Frage, wie Geld entstehe, drucksen die Banker erst etwas herum, zeigen dann aber, wie mittels ein paar Mausklicks und doppelter Buchführung Giralgeld entsteht. Anschließend wird am Geldautomaten Bargeld abgehoben. Alltägliches Bankengeschäft. Die Voraussetzungen dieser Vorgänge – die Möglichkeit der Banken, auf Zentralbankgeld zuzugreifen und die Möglichkeit des staatlichen Zugriffs auf Nationalreichtum und Währungsreserven – bleiben im Dunkeln.

Die Schaffung fiktiven Kapitals und von Geld via Kreditschöpfung und wachsender Staatsschuld sind natürlich Realität, und Staatspapiere gehören zur Gegenposition der umlaufenden Geldmenge. Und Defizit Spending scheint auch sehr bequem, ist bei den Vermögenden eher als eine Steuererhöhung (womöglich auf Vermögen) akzeptiert und wirkt auch konjunkturpolitisch schneller. Es ist „gekaufte Zeit“, wie Wolfgang Streeck das nannte; die Regierungen verschaffen sich eine Atempause in der Krise. Diese hat ihre Ursache aber nicht im fehlenden Geld; das ist eigentlich nie wirklich weg, es ist nur nicht dort, wo es sein müsste. Die millionenfachen, profitorientierten Entscheidungen der Kapitalisten der Real- wie der Finanzsphäre lassen sich durch mehr oder weniger Geld der Zentralbank oder mehr oder weniger staatliche Nachfrage nicht so steuern, dass es zu einem stetigen gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht kommt. Stagniert die Produktion, weil sie nicht profitabel genug ist, führt das Mehr an Geld bei schrumpfender Nachfrage zwar zu keiner Steigerung der Verbraucherpreise, aber wenn es nicht einfach liquide gehalten wird wandert es in Finanzanlagen (beides ist Sparen) und erhöht dessen Preise. Finanzblasen und ihr Platzen sind früher oder später unvermeidlich. Wird das Geld zum Vorschuss für Realproduktion, weil sich die Verwertung dort wieder lohnt, wird erneut auf Teufel komm raus über jede Nachfrage hinaus produziert und die neue Krise vorbereitet. Die Aufhebung der Deckungsvorschriften für das Geld zu Beginn der 1970er Jahre, also die Einführung von Fiatgeld hat trotz eines immer höheren Umlaufs von Staatsschuldpapieren die Wirtschaft nicht stabiler gemacht. Ganz im Gegenteil, die Welt musste sich mit immer schärferen Krisen herumschlagen.

Staatspleiten zeigen, dass immer dann und dort, wo der Staat seine materielle Macht, die dem Fiatgeld zugrunde liegt, verloren hat – zum Beispiel gegenüber ausländischen Gläubigern, auf den Weltmärkten, oder bei Krisen der Zahlungsbilanz – dieses Zahlungsmittel kein allgemein anerkanntes Äquivalent ist. Das überschuldete Argentinien kann Staatsanleihen ausgeben und Peso drucken, soviel es will: schrumpfende Wirtschaft, sinkende Steuereinnahmen, erschöpfte Währungsreserven, negative Zahlungsbilanz, Auslandsschulden. Nicht mal seine Einwohner vertrauen dem Peso; wer kann, flüchtet in als sicher geltende Währungen und Anleihen. Oder er wendet sich dem Gold zu, dem Geld für alle Fälle. Als monetäres Gold ist es ist nach wie vor Bestandteil von Zentralbankreserven, in Deutschland zu 75, in den USA zu 79 Prozent. Seit der Krise 2007/2009 wird es wieder verstärkt von den Zentralbanken angekauft, weil es nicht wie Devisen oder Anleihen „nur“ Forderung ist, sondern Eigenwert hat. Natürlich sind die Währungsreserven und das monetäre Gold verschwindend gering im Verhältnis zur zirkulierenden Geldmenge, die zum überwiegenden Teil aus dem Kreditgeld der Banken besteht. Die Geldmengenpolitik wird auch keineswegs an der Höhe der Goldreserven ausgerichtet. Gold dient – und das war zu Zeiten der Konvertibilität auch nicht anders – nur im äußersten Falle zum Ausgleich von Zahlungsbilanzen und zeigt dann seinen Charakter als Geldware. Folgt man dieser Erklärung (vgl. die Diskussion bei Stephan Krüger / Klaus Müller, Das Geld im 21. Jahrhundert, Köln 2020 und die kritische Rezension von Ulrich Busch in dieser Zeitschrift), kann der Goldpreis als Repräsentationsverhältnis einer Währungseinheit zum Gold interpretiert werden. Solange aber der Kredit, die Anleihen und das auf ihnen beruhende Geld als sicher gelten, funktioniert das alles auch ohne Dazwischenkunft einer Geldware. Warum ist die Währung Japans mit seiner, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, gigantischen Staatsverschuldung so sicher? Das Land hat eine starke Wirtschaft mit potenziell starker Steuerbasis, es hat den nach Deutschland höchsten Leistungsbilanzüberschuss und die nach China höchsten Währungsreserven; die Staatspapiere werden vor allem von Japanern selbst gehalten. Krisen erleidet es trotzdem, und wie lange es seinen Status halten kann, ist offen. Argentinien, USA, Deutschland oder Japan: Was da passiert, lässt sich mit dem Krug der Witwe und der MMT schwerlich erklären. Die kapitalistische Wirtschaft ist voller Verrücktheiten, aber sie ist keine Voodoo-Ökonomie.