23. Jahrgang | Nummer 23 | 9. November 2020

Newton und Mendelejew irrten, Marx nicht?

von Ulrich Busch

Der Unterschied zwischen Mainstream und Non-Mainstream, zwischen den Economics, wie sie sich üblicherweise in den Lehrbüchern und Medien finden, und Auffassungen, die davon abweichen, ist wohl in keiner Disziplin größer als in der Ökonomie. Umso mehr ist es anzuerkennen, wenn Ökonomen immer wieder versuchen, mit ihren alternativen Theorien und Überzeugungen gegen die etablierte Lehre anzukämpfen und vor deren Übermacht nicht zu kapitulieren.

Trotz aller Würdigung, die Karl Marx 2017 und 2018 offiziell zuteil geworden ist, gehören die Marxsche ökonomische Theorie und der gesamte Marxismus zum Non-Mainstream. Das heißt, sie finden in Lehrbüchern, sofern überhaupt, nur eine marginale Erwähnung und ihre Erklärungsansätze spielen in der aktuellen wissenschaftlichen Debatte so gut wie keine Rolle. Die schon 1867 von Marx beklagte „Verschwörung des Schweigens“ hat seitdem weiter zugenommen. Ausgenommen hiervon ist lediglich der „linke“ antikapitalistische Diskurs, worin Altmarxisten, junge Suchende und „bunte Linke“ über sozialökonomische Alternativen zum gegenwärtigen Kapitalismus debattieren. Die hier diskutierten Auffassungen haben aber oftmals mit der originären Theorie von Karl Marx nur noch wenig zu tun. Sie speisen sich zunehmend aus anderen, auch aus nichtwissenschaftlichen Quellen, was nicht zuletzt ihre Vulgarisierung zur Folge hat. Dem arbeiten die Autoren vorliegenden Buches, die Wirtschaftswissenschaftler Klaus Müller und Stephan Krüger, kräftig entgegen, indem sie versuchen, „dem Marxschen Original gerecht zu werden, modische Umdeutungen zurückzuweisen und Marx auch aus dem Blickwinkel der heutigen Wirklichkeit ohne Zerrspiegel zu erfassen“. Jürgen Leibiger, der zu dem Buch ein Vorwort beigesteuert hat, lobt dieses Vorgehen und hält es besonders für die marxistische Wert- und Geldtheorie, die anlässlich der Würdigung des Lebenswerks von Marx zuletzt kaum mehr eine Erwähnung fand, für angemessen. Dabei zeigt sich aber sofort ein Problem: Müller betont die ungebrochene Gültigkeit dieser Theorie bis heute und hält an deren absolutem Erkenntniswert – unabhängig von Raum und Zeit – fest. Er schreibt, die wert- und geldtheoretischen Aussagen von Marx seien „in ihrer Bedeutung für die Politische Ökonomie vergleichbar mit den Newtonschen Gesetzen für die Physik und dem Mendelejewschen Periodensystem für die Chemie“. Nun ja, Newton und Mendelejew waren Genies, ebenso Marx, aber eben Genies ihrer Zeit! Heute weiß man einfach mehr, als sie damals wissen konnten. Und die „Klassische Mechanik“, deren Gesetze Newton im 17. Jahrhundert formuliert hat, ist ebenso wenig das letzte Wort der Physik, wie das Periodensystem, das Mendelejew 1869 aufgestellt hat, das letzte Wort der Chemie geblieben ist. Ganz abgesehen von Mess- und Rechenfehlern, die ihnen unterlaufen sind. Irrten wirklich nur Newton und Mendelejew, Marx aber nicht? Dies ist kaum anzunehmen, zumal sich der Gegenstand der Marxschen Analyse, die kapitalistische Produktionsweise, in einem permanenten Wandel befindet, was nicht ohne theoretische Konsequenzen bleibt.

Diese Problematik lässt sich anhand der Definition des Geldes anschaulich exemplifizieren: Was ist Geld? Nach Marx, den Müller hier sachkundig referiert, ist es „die besondere, einzigartige Ware, die als Äquivalent für den Wert aller anderen Waren dient“, also Gold. Folglich ist Geld „von Natur aus Gold [und Silber]“ – und das unverändert seit rund 5000 Jahren. So steht es bei Marx und so übernimmt es Müller. Im „Goldstandard“, einer Geld- und Währungsordnung, wie sie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts typisch war, hatte das Gold-Sein des Geldes praktisch seine vollendete Form gefunden. Etwa so, wie die Hegelsche „Vernunft“ im preußischen Staat um 1830. Mehr ging nicht, denn hier verschmolz faktisch jeweils der Begriff mit der Realität. – 1914 aber, konsequenter dann 1944, und schließlich endgültig 1971, wurde der Goldstandard praktisch wieder aufgegeben. Der bis dahin gültige Goldgehalt der Währungen wurde vollständig annulliert. Man spricht hier von einer „Demonetisierung des Goldes“ und seiner Ersetzung durch Papier- oder Kreditgeld.

Während die meisten Ökonomen in diesem Vorgang das definitive Ende des Goldes als Geld erblickten, sieht Müller hierin jedoch nur eine Modifizierung des Geldumlaufs, wodurch das Gold aber „längst nicht aufhöre, Geld zu sein“. Er sieht sich in seiner Minderheitsposition durch die Tatsache bestärkt, dass fast alle Notenbanken der Welt nach wie vor in ihren Tresoren große Mengen an Gold lagern. Apodiktisch vermerkt er dazu, „die Geldware Gold“ sei „stets Geld“ – heute so gut wie vor 5000 Jahren. Dies würde die Validität der Marxschen Wert- und Geldtheorie uneingeschränkt bestätigen.

Dies sieht der zweite Autor des Buches, Stephan Krüger, freilich anders. Für ihn ist eine institutionell-gesetzlich fixierte Konvertibilität der Währungen gegenüber der Geldware Gold seit 1971 „nicht mehr existent“. Damit sei auch die Wertmaßfunktion des Goldes, an der Müller strikt festhält, „vollends auf die Geldpolitik der nationalen Zentralbanken übergegangen“. Der Autor lässt sich jedoch, trotz seiner Gegenpositionierung gegenüber Müller, eine Hintertür offen, indem er betont, dass der praktische Verzicht auf das Gold an einen „weitgehend störungsfreien“ Verlauf des Wirtschaftsprozesses gebunden sei. Im Falle eines „katastrophischen Zusammenbruchs des gesamten internationalen Geld- und Währungssystems“ jedoch würde das Gold eine gewisse Aufwertung erfahren und seine „evolutionäre Idealisierung“ (sprich: Demonetisierung) als Geldware gestoppt werden. Dies erscheint durchaus plausibel, würde aber nicht nur für das Gold gelten, sondern gleichermaßen auch für andere Sachwerte, so für Ölreserven, Diamanten, Kunstwerke und Immobilien.

Liest man das Buch ganz durch und schaut dann noch einmal auf den Titel, so fällt einem auf, dass der erste Teil eigentlich am Thema vorbeigeht. Ein Bezug zur Gegenwart taucht erstmals auf Seite 68 auf, wird aber auch hier nicht ausgeführt, sondern dient nur als Übergang, um eine Reihe von spezifischen Fragen, wie das Problem der „gefühlten Inflation“ und der Abschaffung des Bargeldes, kursorisch abzuhandeln. Der Fokus liegt auf der Referierung Marxscher Theoreme und auf Fragen zur Rolle des Geldes in früheren Zeiten, nicht aber im 21. Jahrhundert. Demgegenüber wird der zweite Beitrag dem Thema deutlich besser gerecht. Insbesondere beweist der Autor Realitätsnähe, indem er sogleich von der Ersetzung des Goldes durch „Repräsentativgeldformen“ ausgeht und dann deren Entwicklung praxisbezogen und faktengestützt aufzeigt. Überhaupt werden in den beiden Texten des Bandes zwei unterschiedliche Varianten marxistischen Denkens präsentiert: Zum einen eine orthodoxe, sich streng und wortgenau an Marx haltende, die praktische Entwicklung aber kaum zur Kenntnis nehmende Darstellung, wie sie Klaus Müller präsentiert. Und zum anderen eine von den praktischen Prozessen der Gegenwart ausgehende und diese dann theoretisch unter Bezugnahme auf Marx interpretierende Darstellung, wie sie Stephan Krüger vornimmt. Beide Varianten haben etwas für sich und verfügen über Anhänger. Für den ökonomischen Diskurs und die Lösung von Zukunftsproblemen erscheint mir jedoch die zweite Variante die erfolgversprechendere zu sein.

Stephan Krüger/Klaus Müller: Das Geld im 21. Jahrhundert. Die Aktualität der Marxschen Wert- und Geldtheorie, PapyRossa Verlag Köln 2020, 185 Seiten, 20,00 Euro.