23. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2020

Theaterberlin

von Reinhard Wengierek

Diesmal: „Stimmt’s oder hab ick Recht? Ein Streifzug durch Berlin mit Walter Benjamin“ – Theater im Palais / „Die Rampensau lebt“ – Konstantin Küspert / „Blick in die Zukunft: Theater digital“ – Nachtkritik und Heinrich-Böll-Stiftung.

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Sein Aufsatz von 1935 „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ zählt zu den epochalen Texten der Moderne; alle kennen ihn, wenige haben ihn gelesen. Was Walter Benjamins Weltruhm als Philosoph und Kulturkritiker keinen Abbruch tut. Der beeindruckend schöne Mann mit prachtvollem Schnauzer, fein geschnittenem Antlitz und wehmütig scharfem Blick, mit Wuschelhaar und Nickelbrille sah sich selbst als „linken Außenseiter“ – und war ein Star der europäischen Avantgarde vor dem Zweiten Weltkrieg.

Walter Bendix Schoenflies Benjamin entstammt dem assimilierten Berliner Judentum. Er wurde am 15. Juli 1892 in Charlottenburg geboren, wo er auch seine durch bürgerliche Verhältnisse gut behütete Kindheit verbrachte; der Vater war Antiquitäten- und Kunsthändler, die weit verzweigte Verwandtschaft glich einem internationalen geistigen Großbetrieb, was schon früh die berufliche Laufbahn Walters vorgezeichnete.

Die Politik der Nationalsozialisten zwangen den so genialen wie sensiblen, undogmatischen Denker in die Emigration, deren physische und vor allem psychische Strapazen Benjamin nicht überlebte. Er starb vor acht Jahrzehnten nach der Flucht über die Pyrenäen am 26. September 1940. Eine Überdosis Morphium. Mit 48 Jahren.

Ein Jahrzehnt zuvor begann Walter Benjamin für den „lieben Sohn Stefan“ seine Kindheitserinnerungen aufzuschreiben. Bruchstücke, Beobachtungen, Anekdoten, Reflexionen aus der Zeit, als das kaiserliche Berlin sich aufschwang, eine Weltmetropole zu werden.

So wird denn kindlich gestaunt: Mutters Nähkasten („und ganz unten Gewöll“); die Sandwagen mit dem schneeweißen Pulver zum Dielenputzen; die Festtafeln bei Familienfeiern; das Markthallengewusel am Magdeburger Platz; das Geflügel auf der Pfaueninsel; das Schlittschuhlaufen auf dem Neuen See oder die Halle mit der Radfahr-Schule. Oder der Anhalter Bahnhof („Mutterhöhle der Eisenbahnen“), von dem es abging in die Sommerfrische nach Potsdam.

Und immer geht es hin und her in den Texten: Da ist der neugierig staunende Bengel, da der gewitzt anmerkende Herr Doktor – beispielsweise zu Zusammenstößen zwischen Marktfrau und Hökerin: „Es war ein richtiger Sport geworden, die Weiber zum Schimpfen zu reizen. Richtig von Herzen und mit Ausdauer schimpfen ist eben ein großes Talent. Dazu gehört nicht nur Grobheit und eine gesunde Lunge, sondern ein großer Wortschatz und zuletzt Geist.“

Oder zu den Behörden von „Europas größter Mietskasernenstadt“: „Wir, die geschundenen Steuerzahler haben, weiß Gott, das Recht, diese Stadt, deren Verwaltung von einer Blamage in die andere taumelt, vor allen möglichen Gerichten zu belangen.“ Oder zum Temperament der Umgangssprache („Schnauze so weit aufgerissen, dass das Brandenburger Tor drin Platz hätte“).

Überhaupt Sprache, die Berliner Schlagfertigkeit: „Ich will über die Berliner Schnauze sprechen. Die so genannte große Schnauze ist doch das erste, was allen einfällt, wenn man vom Berliner redet. Der Berliner, sagen die Leute in Deutschland, ja ja, das ist eben der Mann, bei dem zu Hause alles anders und besser und schlauer gemacht wird wie bei uns… Deswegen haben sie den auch nicht gern, wenigstens tun sie so. In Wirklichkeit ist es doch sehr schön, wenn man eine Hauptstadt hat, auf die man ein bisschen schimpfen kann.“

Lehrreich, scharfzüngig, amüsant und anrührend ist alles, was da steht in Walter Benjamins autobiografischen Skizzen „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, einst verschiedentlich journalistisch publiziert, aber erst nach seinem Tod 1950 gesammelt als Buch erschienen, herausgegeben von seinem Freund Theodor W. Adorno

Wie schön und auch klug vom Theater im Palais, daraus einen „Streifzug durch Berlin mit Benjamin“ zu machen unter dem Motto „Stimmt’s oder hab ick Recht?“ (Dramaturgie: Ilse Nickel). Dabei ist viel mehr entstanden als das, was gemeinhin unter „Lesung“ läuft: Etwa eine Berlin-Show im Salon-Format. Die beiden Schauspielerinnen Gundula Köster und Gabriele Streichhahn, begleitet von der Pianistin Ute Falkenau (Weill und Hindemith), könnten damit alle Goethe-Institute und Berlin-Abende dieser Welt bespielen. Informativ und noch dazu lustig die eingespielten Filmdokumente des Berliner Alltagslebens aus der schwarz-weißen Frühzeit der Kinematographie. – Alles in allem sach ick ma: Hier stimmt allet. Und alle hab’n Recht.

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Konstantin Küspert, Jahrgang 1982, Magisterstudium der Germanistik, Philosophie, Theater- und Medienwissenschaft in Regensburg und Wien, Studium Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin – Küspert gilt als erfolgreicher Autor, seine zahlreichen Stücke, die mit starker Sprache akute Probleme originell zuspitzen, werden im deutschsprachigen Raum viel gespielt.

Den Text „Die Rampensau lebt“ schrieb er für das Theater-Portal Nachtkritik. Darin schaut K.K. auf das Treiben der Selbstdarsteller bei TikTok (genannt TikToks) und erkennt dabei eine mögliche Zukunft des Theaters im Netz. – Wer nicht genau Bescheid weiß: TikTok ist ein chinesisches Videoportal für die Lippensynchronisation von Musikvideos und anderen Videoclips. Das Portal hat zugleich die Funktion eines sozialen Netzwerks.

Konstantin Küspert: „Im Versuch populär zu sein, vorzukommen, entdecken die Performer*innen en passant Grundelemente theatraler Praxis: TikToks müssen, um erfolgreich zu sein, praktisch immer eine Pointe haben, meistens überraschend und lustig, und damit grundsätzliche Elemente einer Narration – teilweise regelrechte Fünf-Akt-Strukturen im Miniformat – nachbauen. Stellenweise werden gleichsam Lerninhalte der Schauspielschulen entdeckt, wenn Menschen etwa auf kanonisierten Soundbits Narrative aus ihrem eigenen Leben performen und damit nicht das gesprochene Spielen, sondern die Spielebene selbst mit eigener Bedeutung füllen.

Wenn Theater anfängt, über digitale Inhalte nachzudenken, wirklich nachzudenken über die Möglichkeiten einer Fusion von theatralen und digitalen Mitteln, dann könnte eine neue Form des Theaters entstehen, eine neue Sparte für Stadt- und Staatstheater, die unabhängig von Lockdowns und physischen Beschränkungen existiert und völlig neue Publikumsschichten adressiert.“

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Für Leute, die Lust haben, sich tiefer mit möglichen Zukunftsperspektiven des Theaters zu beschäftigen, gibt es eine Buchempfehlung; nämlich die gesammelten Texte einer Konferenz zum Thema „Netztheater“, veranstaltet von der Heinrich-Böll-Stiftung (Die Grünen) und von Nachtkritik. Die Herausgeber um Nachtkritik-Chefredakteur Christian Rakow offerieren in ihrem Paperback 21 Beiträge zur Theorie und Praxis des Netztheaters, darunter ein Interview mit der Medienwissenschaftlerin Judith Ackermann zu aktuellen Erfahrungen in der Corona-Pandemie und ein Blick auf Großbritanniens immersive Theaterszene im Lockdown.

„Netztheater. Positionen / Praxis / Produktionen“, zu beziehen via Böll-Stiftung oder elektronisch als PDF unter https://www.boell.de/de/netztheater.