Der großartige Publizist Sebastian Haffner hat in seinen „Überlegungen eines Wechselwählers“ im Jahre 1980, des ideologischen Gezänks der Parteien in der BRD überdrüssig, die Parteien in den USA gelobt. Sie waren die „ersten wirklichen Parteien“. Mit der Revolution in den USA gab es keinen König mehr, keine königliche Verwaltung, keine Justiz, Armee und Polizei. Die hatten die Engländer gestellt, und sie waren vertrieben. Die Institutionen mussten alle neu geschaffen werden. Und während in Europa „Obrigkeit“ immer die war, die von oben kam und gottgewollt war, lautete das Credo der USA, sie müsse von unten, aus dem Volke kommen und sei nur dann legitim. Deshalb wurden dort die Parteien erfunden, um jene Menschen zu finden, die sich „als regierungswillig zu erkennen geben“; Parteien als „Pflanzschulen für Politiker“. Im Plural, sonst hätte das Volk keine Wahl; aber nur zwei, um nicht Verwirrung zu stiften, „denn keine Wahl ist eine so klare Wahl wie die Wahl zwischen zwei und nur zwei Möglichkeiten“. Zugleich waren 1980, so Haffner, die Republikaner und Demokraten „schwer zu unterscheiden“, sie „streiten sich eigentlich nicht; sie konkurrieren nur, wie zwei Industriekonzerne, die gleiche Produkte anbieten“.
Das gehört, wie Ezra Klein in seiner aktuellen Analyse nachweist, der Vergangenheit an (Das Blättchen, 22/2020). Die Republikaner wurden die konservative Partei, die vor allem konservative Weiße und Christen vertritt, während die Demokraten quasi eine „Koalition aus liberalen Weißen, Afroamerikanern, Hispanics und Asiaten“ darstellen, die zudem ein Bündnis mit den politischen Zusammenschlüssen der Afroamerikaner eingegangen ist.
Klein verweist darauf, dass 2004 der republikanische Kandidat (das war George W. Bush mit 9/11 und dem angeblichen Sieg im Irakkrieg im Rücken) mit einem Vorsprung von drei Millionen Stimmen gewann. 2008 gewann der Demokrat (nun Obama) mit einem Vorsprung von neun Millionen Stimmen, 2012 mit einem Vorsprung von knapp fünf Millionen. 2016 erreichte Hillary Clinton im „Popular Vote“ einen Vorsprung von knapp drei Millionen Stimmen, doch Donald Trump wurde Präsident, weil er die Mehrheit im Wahlmännerkollegium erlangte.
Diese Unwucht hat eine politökonomische Dimension. Bill Clinton erreichte 1992 die Mehrheit in der Hälfte der 3100 Countys der USA, Obama 2012 in etwa 600 und Hillary Clinton 2016 in weniger als 500 Countys, also in etwa 1000 Wahlgebieten weniger als ihr Mann 24 Jahre zuvor. Zugleich konzentrierten sich in den Countys, in denen Hillary Clinton die Mehrheit errang, 64 Prozent der Wirtschaftsleistung der USA. Bei der Betrachtung von Wahlergebnissen in den USA rücken nicht nur „blaue“ und „rote“ Staaten, reiche Küstenregionen und ärmere „Fly over“-Staaten in den Blick, sondern auch das Institutionengefüge. Respektive die Frage, wie sich die realen wirtschaftlichen, demographischen und sozialen Entwicklungen in politische Macht umsetzen. Klein zitiert eine Prognose, nach der 2040 etwa 70 Prozent der US-Bevölkerung in den 15 größten Bundesstaaten leben werden. Das bedeutet, 70 Prozent der Bevölkerung werden von 30 Prozent der Senatoren repräsentiert, die verbleibenden 30 Prozent dagegen von 70 Senatoren. In diese Richtung wirkt auch das Wahlmännerkollegium bei der Bestimmung des Präsidenten.
Nun hatte bereits Sebastian Haffner eingeräumt: „Der wohl schwerste Konstruktionsfehler des amerikanischen Modells ist das vollkommene Fehlen eines Verbindungsstücks zwischen Präsident und Kongress, die sich wie ewige Gegner gegenüberstehen, obwohl sie doch aus denselben Parteien hervorgehen.“ Mit der Polarisierung und Ideologisierung des Zweiparteiensystems stehen sie sich nicht „wie“, sondern „als“ entschiedene Gegner gegenüber. Ezra Klein verweist – unter Bezugnahme auf den luziden Politikwissenschaftler Juan Linz – auf das eigentümliche Phänomen, dass die USA in allen Staaten, in denen sie nach dem Zweiten Weltkrieg eine demokratische Ordnung oktroyiert haben, das betrifft unmittelbar Deutschland, Japan, Italien und Österreich, in keinem Falle ihre spezifische Regierungsform eingeführt haben, sondern stets ein parlamentarisches System, in dem die Regierungskoalition von der Mehrheit im Parlament abhängig ist.
Ezra Klein folgert, die USA seien „keine Demokratie“. Der entscheidende Punkt nun – neben der jeweils eigenen, sich gegenseitig blockierenden Legitimität des Präsidenten einerseits und des Parlaments mit seinen unterschiedlich besetzten beiden Kammern andererseits – ist, dass das politische System auf geographischen Einheiten aufbaut, „die alle spärlich besiedelten Gebiete gegenüber urbanen, dicht besiedelten Gebieten privilegieren“. Wenn es keine grundlegende Reform des politischen Systems gibt, gar einen Übergang zum Verhältniswahlrecht, und dafür bestehen im gegenwärtigen politischen Gefüge keinerlei Voraussetzungen, ist es nach Klein „nicht schwierig, sich ein Amerika vorzustellen, in dem die Republikaner dauerhaft den Präsidenten stellen, obwohl sie nur selten die Mehrheit der Wählerstimmen gewinnen; in dem sie typischerweise sowohl das Repräsentantenhaus als auch den Senat kontrollieren, obwohl sie nur selten mehr Wählerstimmen bekommen als die Demokraten; in dem ihre Dominanz des Supreme Court nicht in Frage gestellt wird und in dem all diese Macht benutzt wird, um ein System parteiischer Wahlkreisschiebungen zu untermauern […] und so die Wahlkreisperformance der Demokraten immer weiter zu schwächen.“
Das bipolare System, das Haffner lobte, ist nur solange stabil und tragfähig, wie es nicht ideologisch aufgeladen ist. In der Geschichte waren zweipolige Systeme stets auf einen Schicksalskampf konditioniert: Plebejer und Patrizier, Arbeiterschaft und Kapital, Protestanten und Katholiken, Sozialismus und Kapitalismus. Auch in den internationalen Beziehungen waren bipolare Strukturen immer auf den entscheidenden Sieg gerichtet, zuletzt zwischen NATO und Warschauer Vertrag, der mit dem Untergang des sozialistischen Systems und der Sowjetunion endete.
Hier spielt die von Klein bemühte Denkfigur der „negativen Parteiidentifikation“ eine wichtige Rolle: die Niederlage der Gegenseite – Demokraten versus Republikaner – ist wichtiger, als der Erfolg der eigenen Seite. Das spielt bei einem Mehrparteiensystem nicht so eine Rolle. Wenn mir die SPD nicht mehr passt, muss ich nicht die CDU wählen, sondern gegebenenfalls auch die Grünen oder die Linken. Womit ich im selben politischen Feld bliebe. Andererseits, wenn ich immer links gewählt habe, entweder SPD oder Linke, mir eine rot-rot-grüne Mehrheit aber nur unter einem sozialdemokratischen Kanzler vorstellen möchte, und einen grünen Kanzler mit Richtlinienkompetenz unbedingt verhindern will, kann ich ganz entspannt die CDU wählen. Insofern sind hier die USA nicht die Zukunft unseres politischen Systems – was sonst immer gern behauptet wird – sondern eine Ausnahme.
Sie existiert in ungebrochener Kontinuität seit George Washington. Die verfassungsmäßige Referenzgröße für den US-Präsidenten war der konstitutionelle Monarch im Europa des 18. Jahrhunderts. Er sollte nur gewählt sein.
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