Während in Sachen Präsidentenwahl in den USA sich die deutsche politische Klasse eine „Weltordnungswahl“ (Der Spiegel) halluziniert und begierig jede Nachricht aufsaugt, die auf einen Vorsprung Joe Bidens schließen lässt, ferner jedes Buch verschlungen wird, das reißerisch Donald Trumps Verfehlungen und Schwächen beschreibt, finden sich auch nachdenkliche Stimmen. Eine ist die des Kolumnisten Ezra Klein, Jahrgang 1984, der bereits für renommierte Printmedien und Fernsehsender in den USA gearbeitet hat und jetzt Chefredakteur einer als „progressiv“ bezeichneten Nachrichtenwebseite namens Vox ist. Sein Buch ist ganz frisch, 2020 in den USA und soeben auch auf Deutsch erschienen. Der deutsche Titel: „Der tiefe Graben“ ist etwas unscharf; der amerikanische lautet: „Why We’re Polarized“, „Warum wir polarisiert sind“. Um dieser Frage nachzugehen, hat er unzählige politische und politikwissenschaftliche Bücher, soziologische Studien und Umfragen ausgewertet. Das Buch ist Resultat all dessen, was er als politischer Journalist seit Jahren gemacht hat. Und es ist sachlich, auch wenn Klein aus seiner Abneigung gegen Trump keinen Hehl macht.
Sein Einstieg widerspricht üblichen Katastrophenmeldungen: Die Wahlergebnisse von 2016 seien keineswegs überraschend gewesen, die meisten Wähler hätten sich für dieselbe Partei wie 2012 entschieden. „Entscheidend war, dass weiße Wähler ohne Collegeabschluss scharf in Richtung Trump abbogen und dass es ihre Überrepräsentanz in Schlüsselstaaten war, die ihm den Sieg sicherte.“ Seine Positionierung in der Republikanischen Partei sei zwar einer feindlichen Übernahme gleichgekommen, aber: „Trump hat die Partei da abgeholt, wo sie war.“
Die Frage ist, wie es dazu kam. Die US-amerikanische Politik prägt seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Zweiparteiensystem – Republikaner und Demokraten. Schon 1950 kritisierte der Politologenverband der USA, die beiden Parteien seien sich zu ähnlich und würden zu reibungslos zusammenarbeiten. Deshalb seien viele Wähler ratlos. Die Parteien sollten stärker polarisieren. Ein Aufruf, so Klein, „der für heutige Ohren wie Satire klingt“. Tatsächlich verbargen sich zu jener Zeit im Parteiensystem der USA vier Parteien: liberale Demokraten, überwiegend im Norden, die „Dixiekraten“ im Süden, konservative Republikaner und liberale Republikaner. Nach dem Bürgerkrieg in den USA (1861-65) hatten sich in den Südstaaten zwischen 85 und 94 Prozent der Schwarzen als Wähler registrieren lassen, 1944 waren es noch fünf Prozent. Gesetzliche Hürden, struktureller Rassismus und der Terror des Ku-Klux-Klan sorgten dafür, dass die Reaktionäre, die sich in der Demokratischen Partei organisiert hatten (Abraham Lincoln war der erste Republikaner im Präsidentenamt), fast ein Jahrhundert lang den Süden beherrschen und dadurch auch eine starke Position in Washington einnehmen konnten: Von 1896 bis 1932 stellten Südstaatler zwei Drittel der demokratischen Fraktion im Repräsentantenhaus, bis 1953 fiel ihr Anteil zu keiner Zeit unter 40 Prozent. Liberale und sozial orientierte Demokraten, wie Franklin D. Roosevelt, mussten parteiintern stets ihren Frieden mit den reaktionären Dixiekraten machen. Dieses System zerfiel nach der Verabschiedung des Civil Rights Act 1964 unter dem demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson.
Danach sortierten sich die Parteien neu: Aus den Demokraten wurden Liberale, offen nach links, und aus den Republikanern Konservative, mehr oder weniger offen nach rechts. Diese Polarisierung war ideologischer Natur, es gibt im Repräsentantenhaus keine Demokraten mehr, die konservativer sind als jeder Republikaner und umgekehrt; und sie war sowohl themenbasiert als auch identitätsbasiert.
Diese politische Polarisierung wird durch verschiedene Faktoren verstärkt. In den Parteien engagieren sich Personen, die Parteipolitik für wichtig halten; es geht nicht nur um sachbezogene Realpolitik, sondern um Identitäten. Die Parteien machen bestimmte Politikangebote und heben Unterschiede deutlich hervor. Kandidaten, die ausgewählt werden, vertreten diese und bemühen sich, eine polarisierte Wählerschaft zu mobilisieren, wodurch diese noch weiter polarisiert wird. Hinzu kommt das Spendenwesen, von dem die Parteien und Kandidaten in den USA leben. Kritisiert werden oft Großspenden von Großunternehmen. Die wollen jedoch „nur“, dass die Politik ihre Interessen berücksichtigt, was ein rationaler Vorgang ist; das Einsammeln von Kleinspenden vieler Aktivisten und Wähler dagegen verstärkt eher die Polarisierung und damit die Irrationalität der Politik. Das heißt die polarisierten Parteianhänger und Aktivisten stärken die polarisierenden Kandidaten und schwächen zugleich den Parteiapparat, respektive die Parteien. „Weder Donald Trump noch Bernie Sanders hätten bei den Vorwahlen 1956 die geringste Chance gehabt, aber der eine hat bei den Vorwahlen 2016 gewonnen und der andere fast.“
Die neuen Medien und das Internet, von denen bei ihrer Entstehung Demokratietheoretiker hofften, sie würden den mündigen Bürgern neue Informationsmöglichkeiten geben, haben eine neue Spaltung der Gesellschaft bewirkt. Für „die meisten Menschen ist Politik ein Hobby, sie verfolgen die Politik, so wie sie eine Sportart oder eine Band verfolgen“. So sind die Menschen politisch nicht besser informiert als früher, und auch die politische Teilhabe hat nicht zugenommen. Der entscheidende Faktor ist im 21. Jahrhundert nicht der Zugang zu politischen Informationen, sondern das Interesse an politischen Informationen. Zugleich offeriert das Internet die Möglichkeit, dass sich mit der Polarisierung immer mehr Gruppen speziell Interessierter zusammenfinden, die in Medien-Kokons ihren spezifischen Identitäten frönen. Das System der politischen Medien ist um die Polarisierung herum organisiert, verstärkt sie, vertieft die politische Identität und treibt die Kosten der Politik in die Höhe. So sind die Nachrichtenmedien nicht einfach ein Akteur in der Politik, sondern einer der mächtigsten. Sie polarisieren weiter. Empörung verkauft sich gut. Es ist leichter, gegen etwas zu mobilisieren, als für etwas. „Negative Parteibindung“ ist stärker als positive: Man gönnt der Gegenseite, die als feindliche wahrgenommen wird, keinen Erfolg.
Im Hintergrund steht der demographische Wandel. Die Mehrheit der heute Geborenen ist nicht weiß. (Wobei Hispanics in den USA bisher nicht als Weiße zählen.) Bald wird es, so Klein, einen Rekordanteil der US-amerikanischen Bevölkerung mit fremdländischer Herkunft geben. Die Folge ist, „dass die Linke eine kulturelle und demographische Macht spürt, die sie jedoch nur gelegentlich in politische Macht umsetzen kann, und die Rechte politische Macht hat, sich jedoch kulturell zunehmend […] angegriffen fühlt.“ So schien das Amerika, „das einen schwarzen Mann zum Präsidenten wählte“, ein Amerika, „in dem eine Zukunft geschrieben wurde, die auf faszinierende Weise anders sein würde als die Vergangenheit“. Das Amerika, das Trump wählte, sei hingegen eines, „in dem eine Zukunft geschrieben werden sollte, die der Vergangenheit auf erschreckende Weise gleichen würde“. Die Republikaner seien überwiegend abhängig von weißen Wählern und Christen, die Demokraten eine Koalition aus liberalen und nichtweißen Christen, Juden, Muslimen, New Agers, Atheisten, Buddhisten und so fort. Entscheidend werde am 3. November sein, wer seine Wähler stärker zu mobilisieren vermag.
Am Ende jedoch betont Klein, dass sich das politische System der USA in einer „Legitimitätskrise“ befindet. Der sei nur zu begegnen, wenn es wieder „depolarisiert“ werde.
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