Darüber, was gute Kunst ausmacht, streiten sich die Menschen seit dem ersten Höhlenbild. Dabei ist die Antwort sehr einfach zu finden: Gute Kunst irritiert, stellt Gewohntes in Frage, sie regt auf und prägt sich im Unterbewusstsein ein. Der „Rest“ ist dann der persönliche Geschmack, über den sich bekanntlich streiten lässt.
Die Plastiken des Berliner Bildhauers Rolf Biebl – er wurde 1951 in Klingenthal geboren – sind für viele Menschen hochgradig irritierend, sie stellen Sehgewohnheiten in Frage und regen immer wieder auf. Von „ej, wat’n dat for Aliens“ bis „scheußlich, einfach nur scheußlich“ gehen dann die Kommentare. Der Künstler ist selber dran schuld. Er sucht sein Publikum jenseits der Kunsttempel. Biebl stellt seine Figuren gerne in den öffentlichen Raum: „Der öffentliche Raum ist das Gegenteil jeder elitären Kunststrategie. Man muß als Künstler etwas suchen, mit dem man sich den Leuten nähern kann. Das […] ist für mich die eigentliche Herausforderung: daß Menschen, die mit Kunst sonst vielleicht nichts zu tun haben, mit Kunst in Berührung kommen.“ Seine Figuren sind in Ost-Berlin – man muss das tatsächlich eingrenzen, mit seiner Art zu arbeiten, haben die West-Berliner Kultur-Ämter wenig am Hut – an etlichen Orten zu finden.
Im Hof der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg kann man beinahe über „Adam und Eva“ (1986/1988) stolpern. Auf den ersten Blick ein skurril daherkommendes Paar. Die Körper, wie oft bei Biebl, stark überdehnt. Die Gesichter entindividualisiert. Die Figuren wirken archaisch. Die großen Adam-und-Eva-Darstellungen der Kunstgeschichte bilden gerne die Apfel-Szene ab, das hat oft etwas leicht Pornographisches an sich. Oder die abschrecken sollende Strafe für den Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies. Auch das zumeist mehr voyeuristisch denn missionarisch. Biebls Figuren haben das hinter sich gelassen. Eva hält die verschränkten Arme schützend vor ihren Bauch. Adam sucht mit gierigen Händen die Welt zu krallen … Zwischen den beiden ist mitnichten vertraute Aufeinanderbezogenheit, nur leerer Raum. Aber immerhin werden sie als Schreitende dargestellt, da ist also ein Suchen.
Fährt man mit der U 2 Richtung Pankow und steigt am Bahnhof Vinetastraße aus, muss man aufpassen, um nicht mit Rolf Biebls „Schreitenden“ zu kollidieren. Der Magistrat hat die lebensgroße Figur 1987 im Rahmen der Sanierung des Bahnhofes – das war das Jahr der 750-Jahr-Feier der Stadt – dort aufstellen lassen. Die Bronzefigur, auch sie ist durch Eingriffe in die Proportionalität des menschlichen Körpers und eine entsprechende Oberflächenbehandlung leicht verfremdet, scheint sich wie selbstverständlich über den Bahnsteig zu bewegen. Eine Richtung, ein Ziel sucht sie nicht. Das ist durch die Kompassnadel, auf der sie steht, vorgegeben. Mich erinnert sie an Fritz Cremers „Johannes R. Becher“ (1960) im Pankower Bürgerpark. Das hat aber auch mit der dicken Brille zu tun, die Biebl seinem „Schreitenden“ verpasste. Der Dichter wohnte bis zu seinem Tode in Pankow, passionierter U-Bahn-Fahrer war er allerdings nicht.
Ebenfalls 1987 nahmen Biebl und sein Freund Clemens Gröszer (der 2014 verstorbene Maler hatte einige Zeit ein Atelier in Berlin-Marzahn) am 2. Internationalen Berliner Bildhauersymposium in Berlin-Buch teil. Beide erarbeiteten die zweiteilige Sandstein-Skulpturengruppe „David und Goliath“. Gröszer meißelte den abgeschlagenen Kopf des Riesen, Biebl den nur leicht überlebensgroßen David. Er läßt ihn einen mächtigen Helm tragen, der biblische Held ist vollkommen anonymisiert. Lutz Pretzsch schrieb über diesen David 1987: „Dieser ist wohl Sieger des Zweikampfes, verkörpert aber keineswegs das Gute. Er war nur der Schlauere, der besser Gerüstete.“ Das gewählte Mittel der Gewalt habe ihn brutal gemacht. Die Figurengruppe befindet sich im Fennpfuhlpark am Anton-Saefkow-Platz. Selbst wenn Sie da mit der Straßenbahn (die M6) entlangfahren, werden Sie die Gruppe bemerken.
Ich zitiere diese drei Bieblschen Arbeiten nicht zufällig. Ihre Kenntnis kann uns helfen, mit einer immer noch Viele verwirrenden Arbeit klarzukommen, die sich allerdings inzwischen fest in das visuelle Gedächtnis von Menschen eingeprägt hat, die mit dem Namen „Helene-Weigel-Platz Marzahn“ konfrontiert werden. Am 30. September 1990 wurde Rolf Biebls Brunnenanlage „Brunnen der Generationen“ in Betrieb genommen. Das aus drei Bronze-Figurengruppen bestehende Ensemble ist um drei unterschiedlich große Wasserbecken positioniert, von denen das obere und das mittlere abgetreppt sind, um eine Kaskade zu ermöglichen. Die Figuren selbst sollen die verschiedenen Lebensalter symbolisieren: der Sportler mit Motorrad die Jugend, die Familie das mittlere Lebensalter und der alleinstehende „Denker“ am oberen Brunnenrand das „zurückschauende“ Alter.
Die Plastiken selbst unterliegen inzwischen den unterschiedlichsten Interpretationen. 2015 meinte der Kunstwissenschaftler Martin Schönfeld, die mittlere Gruppe, eine sehr statische Familiendarstellung Mutter-Vater-Kind, „frage nach dem Wert des Lebens in der modernen Gesellschaft“ und stehe „im Kontrast zum Ideal der glücklichen Familien“. Ich halte das für entschieden übertrieben, obwohl die Figuren regelrecht erstarrt sind. Das trifft auch auf die obere Figur, einen „Denker“ genannten Männerakt zu. Lediglich die untere Figur, der „Sportler“ ist nicht nur in Bewegung, er befindet sich förmlich auf der Flucht, von seinem abgestellten Motorrad wegrennend. Im Unterschied zu allen anderen ist sein Gesicht nicht zu erkennen, es verbirgt sich unter einem eng anliegenden Helm. Manche Betrachter vergleichen auch diesen jungen Mann mit einem Alien. Übrigens steht er wie der Pankower „Schreitende“ auf einem Richtungspfeil. Auch das Paar mit Kind lohnt einen Vergleich mit der Figurengruppe aus der Kulturbrauerei.
Man mag hier Gesellschaftskritik herauslesen. Das macht sich besonders leicht, wenn der Brunnen trocken liegt. Die Figuren stehen dann in einem vom Bildhauer sicher ungewollten Dialog mit der dann offensichtlichen Tristesse des Platzes. Sprudelt das Wasser und nehmen die Kinder von der Anlage fröhlichen Besitz, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Leider ist der Brunnen oft abgestellt. Auch wenn er in den letzten Jahrzehnten zweimal mit erheblichem Aufwand saniert wurde: 2008 nach fünfjährigem Stillstand für rund 65.000 Euro und 2016 sehr grundlegend mit einem Aufwand von 160.000 Euro.
1981 hatten Rolf Biebl und seine Künstlerfreunde Harald K. Schulze und Clemens Gröszer die Gruppe NEON REAL gegründet. Deren „Manifest“ beginnt: „In den bebilderten Einbahnstraßen ist nicht gut / Kirschenessen“. Der „Brunnen der Generationen“ ist keine bebilderte Einbahnstraße. Er lädt immer wieder zum Gewinnen neuer Sichten ein. Er ist richtig gute Kunst …
Rolf Biebl wohnt inzwischen in Berlin-Hellersdorf. „Ich bin mit meiner Freundin aus dem Prenzlauer Berg geflüchtet“, erzählte er im Februar 2020 in einem Vortrag für die Volkshochschule des Bezirkes und verband dies mit einem Bekenntnis: „Ich liebe den Plattenbau. Alles ist so ordentlich, gerade und strategisch gedacht“. Jetzt muss nur noch das Wasser dauerhaft fließen und die bezirkliche Stadtentwicklungsplanung die noch vorhandenen Freiflächen schützen und bewahren.
Im Moment riecht auch hier alles nach „Verdichtung“. Vielleicht will deshalb der junge Motorradfahrer weg – der Brunnen als Warnmal? Ein Menetekel?
Schlagwörter: Berlin, Bildhauerei, Kunst, Rolf Biebl, Stadtbild, Wolfgang Brauer