23. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2020

Über Hochfinanz, Bullshit-Jobs und Prekarisierung

von Ulrich Busch

Ungleichheit ist ein weit verbreiteter Tatbestand unter Menschen. Es lassen sich dabei individuelle, institutionelle und strukturelle Erscheinungsformen unterscheiden. Während erstere vor allem genetisch bedingt sind, sind letztere systematisch begründet, ökonomisch determiniert und sozial strukturiert. Allein um sie geht es in dem neuen Buch des Politikwissenschaftlers Chistoph Butterwegge, das jetzt in der Kleinen Bibliothek des PapyRossa-Verlages Köln erschienen ist. Der Autor zeigt hier, dass die wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit, wie wir sie kennen und wie sie sich zuletzt immer weiter vertieft hat, alles andere als naturgegeben ist. Sie beruht vielmehr auf den derzeitigen Produktions- und Verteilungsstrukturen, die historisch gewachsen sind und politisch gestaltet werden. Diese sozioökonomische Ungleichheit ließe sich, so der Autor, durch politisch motivierte Umverteilungsvorgänge verringern oder sogar beseitigen und zielgerichtet in eine allgemeine Gleichheit verwandeln. Das Ergebnis wäre, Butterwegge zufolge, nicht nur die Beseitigung der sozialen Ungleichheit, sondern zudem die Aufhebung jeglicher Klassenspaltung und die Erreichung eines Zustandes allgemeiner Glückseligkeit. Als Referenzszenario für diese Zukunftsvision dient dem Autor die „egalitäre Struktur“ der Jäger und Sammler im Holozän oder der sogenannte „Urkommunismus“. Bei der Lektüre dieser Thesen wird sich mancher Leser fragen, ob der „Urkommunismus“ als Zielfunktion und Utopie heute wirklich noch geeignet ist, Menschen zu überzeugen und politisch zum Handeln zu motivieren. Oder ist dieser Bezug nicht eher Ausdruck eines Rückfalls in eine weltfremde Sozialromantik?

Von größerer Überzeugungskraft als die Zukunftsbetrachtung erweist sich die Analyse der aktuellen Situation. Unter Bezugnahme auf neueste zeithistorische Studien beschreibt der Autor die überall anzutreffende Ungleichheit als ein wesentliches Strukturelement der gegenwärtigen Klassengesellschaft. Dabei wird deutlich, dass sich die „krasse Ungleichheit der Gegenwart“ nur unter Rückgriff auf die analytische Schlüsselkategorie der „Klasse“ und auf die Klassentheorie von Karl Marx und Friedrich Engels, Max Weber und anderen Kritikern der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verstehen lässt. Der Autor betont ganz richtig, dass die soziale Ungleichheit Voraussetzung und Ergebnis der kapitalistischen Produktionsweise ist und daher wesentlich auf die Verteilung der Produktionsbedingungen zurückzuführen ist. Er unterstreicht in diesem Zusammenhang die besondere Rolle des Produktivkapitals respektive -vermögens als der entscheidenden Grundlage für die soziale Ungleichheit. Trotzdem richtet er seine Hauptkritik nicht auf das Produktivkapital, sondern auf das Geldkapital. Alles wäre gut, so die Feststellung in einem Zitat, „wenn das Geld nur anders verteilt wäre“. Diese auch bei anderen Linken zu findende Fokussierung der antikapitalistischen Gesellschaftskritik auf das Geld und die Finanzsphäre zieht sich durch das gesamte Buch hindurch.

Als Hauptfeinde der angestrebten Gleichheit gelten dem Autor folglich „raffgierige“ Fondsmanager, Investmentbanker, Finanzdienstleister, Broker, Versicherungsmakler und Wirtschaftsprüfer. Er zählt sie zu „den Berufsgruppen, die aus gesellschaftlicher Sicht weitgehend überflüssig erscheinen“. Ihre Tätigkeit sei „parasitär“ und „nicht produktiv“, weshalb die Gesellschaft ohne sie besser funktionieren würde als mit ihnen. Diese ziemlich realitätsfremde Auffassung mag für das eingangs erwähnte urkommunistische Referenzszenario zutreffen, wohl aber kaum für eine entwickelte Waren- und Geldwirtschaft! Hier verrennt sich der Autor offensichtlich und folgt einem lange eingeübten, nichtsdestotrotz aber falschen antimonetären Affekt, welcher weder der tatsächlichen Situation noch den Erfordernissen der nächsten Zukunft gerecht wird. Vielmehr wiederholt sich in der antimonetären Stoßrichtung seiner Argumentation nur einer der Grundfehler linker Gesellschaftskritik, welche auf die Geldsphäre gerichtet ist, die Produktionssphäre aber vernachlässigt. Die aktuell beobachtete und zutreffend beschriebene Symbiose zwischen Finanzwirtschaft und Internetökonomie führt die zuvor abgefeuerte Schimpfkanonade auf das Finanzkapital und dessen Protagonisten dann auch ad absurdum, da eingeräumt werden muss, dass diese Symbiose dazu beigetragen hat, die Verwertungsbedingungen für Investoren zu verbessern und den gesellschaftlichen Reichtum sichtlich zu vergrößern.

Eine andere Frage ist die immer ungleicher werdende Verteilung des Reichtums und die immer größer werdende Polarisierung in der Gesellschaft. Hierfür liefert Butterwegge im letzten Teil des Buches eine Reihe von Beispielen jüngeren Datums, die unbedingt überzeugen. Nicht überzeugen kann dagegen sein Versuch, aus der Symbiose von Finanz- und Internetökonomie das Auftreten einer „neuen Klasse“ abzuleiten, die künftig die Entwicklung dominieren soll. Er unterschätzt hier die Beziehung zwischen Finanz- und Realkapital und die Transformation der Produktionsweise, welche gegenwärtig unter der Bezeichnung Industrie 4.0 firmiert und worin die Dienstleistungsökonomie eine Schlüsselrolle spielt.

Positiv hervorzuheben ist die Herausarbeitung der ungleichen Vermögensverteilung gegenüber den ebenfalls ungleichen Einkommen. In den meisten Studien wird die Einkommensverteilung überbetont und die Vermögensfrage unterschätzt. Dieser Fehler wird hier korrigiert, indem der wahre Reichtum in den Vermögen erblickt wird. Leider hat der Autor in seinen Darlegungen aber darauf verzichtet, in diesem Kontext die besondere deutsche Problematik einer Ost-West-Diskrepanz in der Vermögensverteilung zu erörtern. Es gibt in dem Buch zwar einige Passagen, wo auf die ostdeutsche Spezifik hingewiesen wird, zum Beispiel bei der Behandlung der Entlohnung von „Frauen, Ostdeutschen und Migranten“ (sic!), insgesamt aber bleibt der Ost-West-Unterschied im 30. Jahr der deutschen Einheit ausgeblendet. Dies stellt einen gravierenden Mangel dar, weil gerade die Ost-West-Differenz bei den Vermögen, und ganz besonders bei den für die soziale Ungleichheit letztlich den Ausschlag gebenden Produktivvermögen, derart groß ist, dass alle anderen Fragen der ungleichen Ressourcenverteilung, Einkommen, sozialen Unterschiede und so weiter dahinter beinahe verschwinden.

Das vorliegende Buch erweist sich damit als ein aktuelles und streitbares Werk, das gelesen, aber auch kontrovers diskutiert werden sollte. Es fordert dazu geradezu heraus.

Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Klassengesellschaft, PapyRossa Verlag, Köln 2020, 183 Seiten, 14,90 Euro.