23. Jahrgang | Nummer 16 | 3. August 2020

Die EU – ein Trümmerhaufen

von Hannes Hofbauer, Wien

In Brüssel verhandelten 27 Staats- und Regierungschefs 90 Stunden lang, um ein Kredit- und Zuschusspaket für marode Mitgliedsstaaten sowie den EU-Haushalt bis 2027 zu beschließen. Die Tatsache, dass zwischen dem Gerangel ums Geld kaum geschlafen wurde, quittierten die Begleitmedien seltsamerweise mit dem Beiwort „heroisch“. Als ob Schlafmangel positive Resultate erzielen könnte. Wenn man sich dazu noch vorstellt, dass die Feilscher Mund-Nasenschutz getragen haben, der dazu führt, dass dem Hirn mehr CO2 als beim freien Atmen zugeführt wird, dann sollte einen das Resultat nicht mehr verwundern.

Der erste analoge Gipfel mit physischer Anwesenheit seit den Lockdowns war ein einziges Wundenlecken. Mitte März hatte die Europäische Union ihre bisher dunkelste Stunde erlebt. Ein Virus, oder besser: das Virus-Management, förderte zutage, was Worthülsen wie „europäische Solidarität“, „Grenzenlosigkeit“ und „Weltoffenheit“ wert sind, wenn es auf sie ankäme: nichts. Die ausschließlich nationalstaatlich verordneten Notstandsgesetze und Grenzschließungen hatten für EU-Kommission und EU-Rat den Charakter eines politischen Offenbarungseids. Brüssel war abgemeldet. Dazu kam der nun endgültige Rückzug der zweitgrößten Volkswirtschaft, Großbritannien. Der Vollzug des Brexit machte es für die übrig gebliebenen Mitglieder deutlich: Es wird teurer.

Die meinungsbildenden Begleitmedien blendeten diese Hintergründe weitgehend aus. Stattdessen war viel vom „historischen Moment“ die Rede und von einem Durchbruch in Sachen „gemeinsamer Verantwortung“. Das gegenseitige Schulterklopfen hält vor der Wirklichkeit allerdings nicht stand, da mögen Keynesianer und Liberale noch so laut frohlocken. Denn das gemeinsame Aufnehmen von Schulden wird die Staaten der Union einander nicht näherbringen, im Gegenteil. Da ist erstens die Tatsache zu nennen, dass es mit der Gemeinsamkeit schon bei der Haftung aufhört, denn diese bleibt geteilt. Und dann überzeugt ein Blick auf die Dimension des angeblichen Hilfspakets, dass es sich dabei mitnichten um eine neue Quantität, geschweige denn eine neue Qualität handelt. 750 Milliarden Euro sollen für 446 Millionen von der Corona-Krise betroffene EU-Bürger locker gemacht werden, das sind 1680 Euro pro Kopf. Der Vergleich macht uns sicher: Im bundesdeutschen Budget sind für Anti-Corona-Maßnahmen 350 Milliarden Euro vorgesehen, mithin 4200 Euro pro Bundesbürger, wobei Berlin für den doppelten Betrag haftet. Ein Ausgleich zwischen Reich und Arm findet also nicht statt. Dass von den 750 EU-Milliarden 100 Milliarden aus anderen Programmen abgezweigt werden, also kein frisches Geld sind, macht die Sache noch eindeutiger.

Der Großteil des Corona-Pakets geht nach Italien und Spanien, wobei Rom mit 172 Milliarden Euro rechnen kann (davon 82 Milliarden als – verlorenen – Zuschuss), Spanien mit 140 Milliarden (davon 77 Milliarden nicht rückzahlbare Gelder). Dafür müssen die – neben Belgien, das magere 5,5 Milliarden erhält – am schwersten von der Epidemie betroffenen Länder ein Austeritätsregime, vulgo: Reformen, ins Werk setzen. Damit es zur Zustimmung aller Mitgliedsstaaten kam, handelten die Nettozahler höhere Rabatte beim Siebenjahresplan für sich aus, der mit 1074 Milliarden Euro dotiert ist. Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und den Niederlanden werden zusammen 52 Milliarden Euro gutgeschrieben.

Was das Corona-„Rettungspaket“ noch offenbart, ist die Fortschreibung der ökonomischen Ungleichheit im „Euro“-Raum. Denn die Kreditvergabe von 360 Milliarden Euro (bei 390 Milliarden Zuschüssen) an hauptsächlich Staaten des europäischen Südens garantiert den Bestand des Systems, wonach Export-Länder wie Deutschland den Euro und billige Arbeitskräfte dazu nützen können, im Geschäft zu bleiben, und die Peripherie mittels Zuschüssen und Krediten notgefüttert wird. Damit kann ihre Nachfrage nach hochwertigen Industriegütern aus den Zentralräumen aufrechterhalten werden.

„Historischer Moment“, „Signal des Vertrauens“, „ein Riesenschritt nach vorne“, „alle stehen zusammen“, „großer Erfolg“ – Ursula von der Leyen war in den Stunden nach der Verkündung des Corona-Pakets nicht zu bremsen. Für wache Beobachter nahm das Selbstlob unerträgliche Ausmaße an. Dahinter konnte man jedoch eine interessante Botschaft vernehmen. Immer wieder betonte die EU-Kommissionschefin, dass es nun darum ginge, eine Modernisierungsoffensive zu starten. „Next Generation EU“, lautete eines ihre Schlagworte. Übersetzt in die Sprache der Wirtschaft bedeutet dies, dass Brüssel – wie auch die einzelnen EU-Mitglieder – die staatlichen Strukturen gestärkt sehen will, um ein neues Akkumulationsregime auf den Weg zu bringen. In der Geschichte des Kapitalismus braucht es immer dann die besonders enge Allianz von Kapital und Staat, wenn es darum geht, mittels neuer Leitsektoren eine strukturelle Verwertungskrise zu überwinden. Das Corona-Management dient dazu, diesen Prozess zu beschleunigen.

Wir befinden uns mitten in einer Zeitenwende von einer industriellen in eine kybernetische Produktionsweise, in der biotechnische, pharmazeutische, Kommunikations- und Kontrollunternehmen hohe Profitraten versprechen und dafür Künstliche Intelligenz, Robotik und Nanotechnologien zum Einsatz bringen. Ein starker Staat hilft bei der Umsetzung. Die Rückstellung eines Solvenz-Hilfsfonds für schwer überlebensfähige Unternehmen in der EU oder die Weigerung der deutschen Regierung, der wichtigen, wiewohl alten Leitindustrie – den Automobilbauern – per Abwrackprämie neuerlich aus der Patsche zu helfen, sind konkrete Hinweise darauf, dass die Politik diesen Wandel vorantreiben will.

Der EU-Gipfel vom Juli 2020 hat zudem einen Vorgeschmack auf künftige Auseinandersetzungen gegeben. Blockbildungen innerhalb der Europäischen Union werden in Zukunft häufiger und nicht mehr hinter den Kulissen stattfinden. Die erfolgreiche Allianz der vier oder fünf Sparmeister wird Nachahmer finden. Zudem wurde deutlich, wie labil die entscheidende Achse Berlin-Paris ist, sie kann bereits nach dem nächsten Wahlgang der Vergangenheit angehören. Damit ist nicht nur die Abhängigkeit von den Urnengängen in Deutschland und Frankreich gemeint, sondern auch von jenem in den USA. Die Frage, wer nach dem Ausscheren Großbritanniens aus der EU das Liebkind Washingtons sein wird, kann auch Einfluss auf die deutsch-französischen Beziehungen haben. Sich von den USA zu lösen, dazu waren die westeuropäischen Einigungsbestrebungen seit dem Kohle-Stahl-Pakt des Jahres 1950 nicht gemacht und das scheint auch heute nicht auf der Tagesordnung zu stehen.

Neben dem Visegrad-Block der östlichen Peripherie, dem sich Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Polen zugehörig fühlen, formierte sich in Brüssel eine neue Viererallianz der Nettozahler aus den Niederlanden, Österreich, Schweden und Dänemark, der sich auch Finnland anschloss. Folgt man Aussagen des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz, dann wird sich die Zusammenarbeit der „Frugalen“ in Zukunft verstärken. Interessant an dieser in wirtschaftspolitischem Terminus „klassischen“, liberalen Gruppe ist die grüne Achse, die sich dahinter verbirgt. Denn in Dänemark, Schweden und Österreich regieren Grüne mit. Die „Frugalen“ können mit der stillschweigenden Rückendeckung aus Berlin rechnen, denn Angela Merkel kann zufrieden damit sein, dass Mark Rutte und Sebastian Kurz den monetaristischen Zeigefinger heben, wenn es um die Verteilung von EU-Geldern geht. So kann sie die spendable Mutti auch auf EU-europäischer Ebene geben und die konservativen Kollegen böse Egoisten spielen lassen.

Von Hannes Hofbauer erscheint im Oktober 2020 das Buch „Europa – ein Nachruf“ im Wiener Promedia Verlag.