23. Jahrgang | Nummer 14 | 6. Juli 2020

Krause’s Horror Picture Show

von Sarcasticus

„Es ist verlockend,
hinter jeder Bedrohung
ein ruchloses und
kriegslüsternes Russland zu sehen.“

Mark Galeotti,
„The Gerasimov Doctrine“
Berlin Policy Journal
28. April 2020

Bereits in der vorangegangenen Ausgabe war Joachim Krause ein Beitrag gewidmet. Es ging um Krauses ausgesprochen verständnisvolle, nachgerade milde Sicht auf die deutschen Rüstungsexporte. Doch die sind keineswegs der einzige Fragenkreis mit internationalen Weiterungen im Kompetenz-Kanon des Kieler Professors, zu dem sich dieser ausgenommen auskunftsfreudig zeigt. Auch zur aktuellen Sicherheitslage im Verhältnis zu Russland ist Krause Experte, auf diesem Felde allerdings gar nicht verständnisvoll, geschweige denn milde.

Wenn Krause über die russische Bedrohung referieren darf – noch dazu ohne interessierte oder gar kritische Zwischenfragen, wie jüngst im von der Gesellschaft für Sicherheitspolitik herausgegebenen GSP-Einblick 5/2020 –, dann fokussiert er zum Beispiel auf folgende Punkte:

  • regionale Kriege – „nehmen in der russischen Militärdoktrin vom Dezember 2014 einen zentralen Stellenwert ein. Es sind Kriege an der Peripherie Russlands, die unter allen Umständen gewonnen werden müssen, auch unter Einsatz von Kernwaffen oder deren Androhung. […] Kriege, bei denen davon ausgegangen werden muss, dass sie nur von Russland begonnen werden.“
  • neue russische Waffensysteme – insgesamt entstehe „ein beeindruckendes und bedrohliches Arsenal von präzisen Waffen, die in die strategische Tiefe der NATO in Europa hineinwirken können und den Willen Russlands erkennen lassen, sich eine Eskalationsdominanz* für einen regionalen Krieg in Europa zu verschaffen“. Inbesondere könnten die „ballistischen Kurzstreckenraketen Iskander […], die eine Reichweite von knapp unter 500 km haben, […] nuklear und konventionell bestückt werden […] und vom Oblast Kaliningrad aus Berlin und Warschau binnen weniger Minuten erreichen“.
  • Bruch des INF-Vertrages durch Moskau – 2017 habe Russland „eine landgestützte Version des Flugkörpers Kalibr (9M 729) eingeführt mit einer Reichweite von bis zu 2.500 km. Mittlerweile gibt es mindestens 4 Bataillone mit insgesamt 64 Werfern. Die Einführung dieses Waffensystems war ein klarer und bewusst einkalkulierter Verstoß gegen den INF Vertrag und führte zur Aufkündigung dieses Vertrags durch die US-Regierung.“

Blanker Horror!

Oder vielleicht doch nicht?

Denn dass Krause den Inhalt der russischen Militärdoktrin von 2014 je zur Kenntnis genommen hätte, muss arg bezweifelt werden. Das Dokument (hier klicken) enthält nämlich keinerlei Passagen, die im Sinne der Krauseschen Interpretation zu lesen wären. Um dies zu überprüfen, muss man des Russischen übrigens nicht mächtig sein, denn seit 2015 ist auch eine Übersetzung aus der Schriftenreihe der damaligen Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik öffentlich zugänglich – etwa über die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden.

Und was Kriege angeht, „bei denen davon ausgegangen werden muss, dass sie nur von Russland begonnen werden“, so können damit Kriege wie die des Westens auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak oder gegen Libyen mit ihren katastrophalen Konsequenzen für ganze Regionen wohl nicht gemeint sein. Was dann auch schon mal etwas wäre …

Was andererseits neue russische, auch nukleare Waffensysteme anbetrifft, „die in die strategische Tiefe der NATO in Europa hineinwirken können“, so macht Moskau darum gar kein Geheimnis. Im Gegenteil – diese Waffen sind immer wieder Gegenstand ziemlich lautstarker russischer Propaganda. Getreu dem vor Jahrzehnten im Westen formulierten Grundsatz, dass militärische Abschreckung nur dann funktioniere, wenn der Abzuschreckende möglichst genau wisse, was er im Falle eines Angriffs zu gewärtigen hätte. Denn die NATO ist seit langem, wie etwa Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem zentralen sicherheitspolitischen Think Tank der Bundesregierung, gerade wieder konstatiert hat, „Russland insgesamt konventionell überlegen, auch wenn russische Truppen gegenüber den baltischen Ländern operative Vorteile genießen“. Diese konventionelle Gesamtüberlegenheit der NATO, von welcher – da der jährlichen Military Balance des International Institute for Strategic Studies (IISS) in London selbst für Laien entnehmbar – auch Joachim Krause wissen sollte, ist dermaßen überwältigend und allein aus ökonomischen Gründen „uneinholbar“, dass man in Moskau offensichtlich eine Anleihe beim Nordatlantikpakt aufgenommen hat: Der hatte zum Ausgleich der numerischen konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes in Zentraleuropa während des Kalten Krieges etwa 5000 taktische US-Atomwaffen in der Bundesrepublik gelagert. Die waren nicht dazu gedacht, den Osten zu überfallen, doch ihn zu stoppen, wenn er denn selbst angriffe. Das Konzept war seit den 1960er Jahren in der offiziellen NATO-Strategie der Flexible Response verankert. Und das war aus Sicht des friedlichen Westens, der ja nur in der Dritten Welt, nicht aber in Europa, Krieg auf Krieg führte, völlig gerechtfertigt. Möglicherweise hätten daher die Russen heute bei Joachim Krause wenigstens auf ein My an Empathie hoffen können, wenn sie ihr aktuelles Konzept einfach ebenfalls „гибкое реагирование“ (Flexible Response) genannt hätten.

Bezüglich des ballistischen Flugkörpers Iskander hingegen hat sich Krause einmal mehr entweder falsch informiert oder er verbreitet vorsätzlich Nonsens. Otfried Nassauer, der für seine peniblen Recherchen bekannte Gründer und Chef des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS), stellt klar: „Die ballistische Rakete vom Typ Iskander 9M723 hat eine Reichweite von lediglich 250 Kilometern – so die offizielle russische Angabe – und erreicht damit die US-Raketenabwehrstellung bei Slupsk in Polen. Nach US-Geheimdienstschätzung fliegt sie zwar 100 Kilometer weiter, erreicht aber damit auch keinesfalls die deutsche Grenze.“

Bliebe der „vorsätzliche“ Bruch des INF-Vertrages durch Moskau. Tatsächlich bestreitet Russland nicht mehr, einen landgestützten Marschflugkörper des Typs Kalibr in Dienst gestellt zu haben. Abgeleitet ist dieses System von einer bereits zuvor bekannten seegestützten Variante, von der man spätestens seit deren Einsatz von Schiffen im Kaspischen Meer gegen Ziele in Syrien im Jahre 2015 weiß, dass die Reichweite über 1000 Kilometer liegt, also deutlich über der Untergrenze von 500 Kilometern für die vom INF-Vertrag erfassten Systeme. Im Hinblick auf den Vertrag war das jedoch unbedenklich, weil der sich nur auf landgestützte Systeme bezog. Übrigens ein Entgegenkommen der damaligen Sowjetunion, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses – anders als die USA – weder über see-, noch über luftgestützte Cruise Missiles verfügte.

Als die USA mit Fernaufklärungsmitteln erfasst hatten, dass die landgestützten russischen Kalibr praktisch die gleichen äußeren Abmessungen aufweisen wie die seegestützten, leiteten sie daraus ihren Vorwurf der Vertragsverletzung durch Reichweitenüberschreitung seitens Moskau ab. Leider wurden russischerseits diese Anschuldigungen lange lediglich pauschal zurückgewiesen, statt frühzeitig eine Klärung durch Vor-Ort-Inspektionen anzubieten. Das erfolgte erst zu einem Zeitpunkt, als die USA bereits Kurs darauf genommen hatten, den Vertrag auf jeden Fall scheitern zu lassen. Washington stellte ein Ultimatum: Entweder Moskau verschrottet die neuen Systeme bedingungslos und komplett oder die USA kündigen das Abkommen. Da Washington zugleich die angebotenen Vor-Ort-Inspektionen in Russland ablehnte, kam es auch nicht mehr zur Überprüfung von Angaben seitens des Chefs der russischen Raketen- und Artilleriestreitkräfte, General Michail Matwejewski, vom Januar 2019, wonach die „maximale Reichweite des russischen landgestützten Marschflugkörpers 9M729 […] 480 km [beträgt]“, sowie seiner Erklärung: „Die Masse des Treibstoffs begrenzt die konstruktionsbedingte maximale Reichweite der Flugkörper, vorgegeben durch die Anforderungen des [INF-]Vertrages. Sie werden in speziellen Containern an die Truppen geliefert. Eine Änderung des Treibstoffgewichts und eine Neuausstattung der Flugkörper mit Treibstoff sind unter Bedingungen des militärischen Betriebs unmöglich. Die Truppen können die Flugkörper nur lagern, sie auf Abschussvorrichtungen und Transport- und Lademaschinen in Bereitschaft halten und an ihnen Wartungsarbeiten nach den technischen Vorgaben durchführen.“

Wenn unter den Blinden der Einäugige König ist, so hat Joachim Krause offensichtlich beste Voraussetzungen für eine Thronbesteigung. Zu seiner Einäugigkeit passt im Übrigen auch bestens, dass er die zentrale Verletzung des INF-Vertrages durch die USA einfach unterschlägt.

Seit Jahren hatte Moskau angemahnt, dass die Abschusscontainer der US-Raketenabwehrsysteme vom Typ Aegis Ashore in Rumänien (und künftig in Polen) mit Vertikalstartern (Vertical Launch System/VLS) Mark-41 ausgestattet seien – außer zum Start von Abfangraketen konstruktiv zugleich zum Abschuss von Tomahawk-Cruise Missiles (BGM-109) mit einer Reichweite von bis zu 2500 Kilometern ausgelegt. Das wird auch von US-Experten wie Theodore A. Postol, emeritierter Professor für Wissenschaft, Technologie und Sicherheitspolitik am Massachusetts Institute of Technology (MIT), bestätigt – siehe ausführlich in der Blättchen-Ausgabe 4/2019. Ein eindeutiger Bruch des INF-Vertrages, der neben den entsprechenden landgestützten Flugkörpern mit Reichweiten zwischen 500 und 5000 Kilometern auch die zugehörigen Startgeräte verbot.

Washington seinerseits wies die russischen Vorwürfe zurück, ohne Vor-Ort-Inspektionen anzubieten. Und nur zwei Wochen nach ihrem Austritt aus dem INF-Vertrag testeten die USA einen Marschflugkörper mit einer Reichweite oberhalb 500 Kilometer. Von einem landgestützten Mark-41-VLS aus.

P.S.: Einer, der Joachim Krause bereits aus dessen Zeit bei der DGAP kennt, meint, der gehöre zu einer ganz eigenen Spezies – zur Adeptenszene der US-Neokonservativen in Deutschland; faktenschwach, doch hoch ideologisch. Dem dürfte schwerlich zu widersprechen sein.

* – Eskalationsdominanz ist nach Krause „die Fähigkeit einer Seite in einem Krieg diesen zu seinen (sic! – S.) Gunsten zu beenden. Für einen Staat, der mit militärischen Mitteln den territorialen Status quo verändern und andere Länder militärisch besetzen will, bedeutet Eskalationsdominanz die Fähigkeit, besetzte Länder von Verteidigungsanstrengungen abzuhalten und deren Verbündeten (auch unter der Androhung des Einsatzes von Kernwaffen) zu signalisieren, dass sie nicht zur Verteidigung der besetzten Staaten einschreiten sollen.“