Der Vorsteher der Münchner Wehrkundetagung alias Sicherheitskonferenz, Botschafter Wolfgang Ischinger, wollte in diesem Jahr einen besonders intellektuellen Eindruck machen und schrieb über seinen Report 2020 für diese Veranstaltung: „Westlessness“. Während früher gern über „Westernization“, also die Verwestlichung der ganzen Welt schwadroniert wurde, nun also die dumpfe Drohung mit einer „Entwestung“ nicht nur der Welt, sondern auch des Westens selbst. In der Ankündigung der Tagung hieß es, es gäbe „ein weitverbreitetes Gefühl des Unbehagens und der Rastlosigkeit angesichts wachsender Unsicherheit über die Zukunft und Bestimmung des Westens“. Die illiberalen und nationalistischen Kräfte würden auch innerhalb des Westens zu seiner Uneinigkeit führen.
Als intellektuellen Bezug dafür suchte sich Ischinger ausgerechnet Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ aus. Das Werk erschien vor etwa 100 Jahren. Der Punkt nur ist, dass die Ausbreitung der Probleme durch den Autor Spengler nicht schlicht auf den von ihm gewählten Titel zu reduzieren ist. So heißt es bereits in der Einleitung zu seinem Werk: „Die Erscheinung andrer Kulturen redet eine andre Sprache. Für andre Menschen gibt es andre Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine.“ Und weiter: „Der Untergang des Abendlandes […] bedeutet nichts Geringeres als das Problem der Zivilisation. […] Denn jede Kultur hat ihre eigne Zivilisation.“ Wenn man im Sinne Spenglers akzeptiert, dass China, Russland und Indien beispielsweise eigene Kulturen sind und deshalb eigene Zivilisationen hervorbringen, so ist ihnen dies nicht vorzuwerfen, sondern eine Tatsachenfeststellung. Ischinger aber möchte gern die Entwestung bedauern und nörgelt über die heutige „Untergangsliteratur“ und die Dorftrottel, denen nichts anderes einfällt, als über die Verfaulung des Westens zu schreiben und zu reden.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nahm Ischingers Ball auf und meinte zu dem Konferenzthema, „das selbstverständliche ‚Wir‘ des ‚Westens’“ sei „heute nicht mehr ganz selbstverständlich“. Es folgten die üblichen Anwürfe gegenüber Russland und China und dann der Vorwurf der enttäuschten nordatlantischen Amerikaliebe: „Und unser engster Verbündeter, die Vereinigten Staaten von Amerika, erteilen unter der jetzigen Regierung selbst der Idee einer internationalen Gemeinschaft eine Absage. Als ob eine Haltung ‚jeder ist sich selbst der Nächste‘ schon Weltpolitik sein könnte. Als ob an alle gedacht sei, wenn jeder an sich denkt.“ Nebenbei: Damit ruft der frühere Erfüllungsgehilfe Gerhard Schröders gerade die Grundphilosophie des Neoliberalismus auf, die dereinst Grundlage der Hartz-IV-Gesetze war, und mokiert sich jetzt darüber. Zutreffend meint Steinmeier an dieser Stelle, der Rückzug auf ein eng verstandenes nationales Interesse, hindere daran, „gemeinsam voranzugehen und überzeugende Antworten zu entwickeln“. Das meint wieder: wenn Deutschland seine „werteorientierte“ Komponente der Außenpolitik als Element aktueller Machtpolitik umsetzen will, braucht es im Hintergrund die US-amerikanische Unterstützung, zumindest deren militärisch-politisches Potential.
Der US-amerikanische Außenminister Mike Pompeo hatte für die Deutschen „nur Hohn“ übrig, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung meinte, und erklärte: „Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Berichte über den Tod des transatlantischen Bündnisses stark übertrieben sind.“ Entscheidend für die USA unter der Präsidentschaft von Donald Trump sei: „Der Westen gewinnt. Wir gewinnen gemeinsam.“ Der „Respekt für die Souveränität“ sei das „Geheimnis und die Grundlage unseres Erfolgs“.
Während Ischinger mit seiner Zustandsbeschreibung davon ausging, dass eine Vielzahl aktueller Sicherheitsherausforderungen direkt mit dem vielbeschriebenen Zerfall und Rückzug des Westens verknüpft sei, und es unklar bleibe, inwieweit der Westen eine Strategie und gemeinsame Antwort auf eine sich abzeichnende Ära der Großmachtrivalität finden werde, unterstrich Pompeo die harte Position der USA, die die Probleme im Verhältnis zum Iran, zu Russland und zu China lösen werde.
Im Grunde haben wir es mit einer Entwicklung zu tun wie am Ende des Realsozialismus. Auf der Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Vertrages in Bukarest am 7. und 8. Juli 1989 erklärte der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow, dass jeder sozialistischen Staat für seine eigene Entwicklung selbst verantwortlich sei, jedenfalls die Sowjetunion sich in die inneren Angelegenheiten der anderen Länder nicht einmischen werde. Jedes Land habe das Recht auf einen eigenen politischen Kurs und eine eigene Strategie entsprechend seinen Bedürfnissen. Damit verlor die sogenannte „Breshnew-Doktrin“ vom November 1968 ihre Gültigkeit. Spötter sprachen von der „Sinatra-Doktrin“: My Way – jeder kann machen was er will.
Es herrscht aber weiter Katzbuckeln aus Gewohnheit. München hat gezeigt, dass ein relevanter Teil der politischen Klasse in Deutschland sich danach sehnt, von den USA wieder klare Direktiven zu erhalten. Anderen ist es bewusst, dass die außenpolitischen Interessen Deutschlands klar definiert werden müssen, und zwar in einem friedenspolitischen Sinne. Aber zu einer Definition können sie sich nicht aufraffen.
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