23. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2020

Äquidistanz und eine Abrechnung

von Stephan Wohanka

Demokratien sterben durch Wahlen

Norbert Lammert

Mike Mohring, CDU-Vorsitzender Thüringens: „… und nachdem im dritten Wahlgang ein Kandidat der Linkspartei anstand und dann ein Kandidat der AfD und dann ein Kandidat der Mitte vorgeschlagen wurde, haben wir uns so verhalten, wie wir es im Wahlkampf angekündigt haben, dass wir die Mitte in diesem Land stärken wollen.“ So nahm die Wahl im Erfurter Landesparlament ihren bekannten Lauf … Geschichte nun schon. Wer wann mit wem telefonierte, redete, wer antichambrierte, beschwor, flehte oder bat, dieses oder jenes zu tun oder zu unterlassen, ist schon in Teilen bekannt und wird auch noch herauskommen. Jedoch – all das ist von minderem Interesse.

Das eigentlich Spannende am Vorgang: Ist für die CDU und die FDP die Distanz zu Bodo Ramelow die gleiche wie zu Björn Höcke? Grundsätzlicher: Sollte es aus Sicht der so genannten politischen Mitte eine Äquidistanz zur Linkspartei wie zur AfD geben? Der Politikwissenschaftler Martin Florack dazu: „Die Gleichsetzung der politischen Ränder ist ein Witz.“ Warum hat der Mann Recht?

Der Altliberale Gerhard Baum gab zu Protokoll: „Die Reaktion von Lindner (FDP-Chef Christian L. – St.W.) ist nicht ausreichend und nicht überzeugend. Er hat behauptet, die Mitte habe gesiegt – hat Herr Lindner jetzt etwa die AfD in die Mitte aufgenommen? Er lässt auch nicht davon ab, links und rechts gleichzusetzen. Wir haben aber in Deutschland eine rechtsextreme Partei, die die Nazi-Ideologie wiederbelebt. Die Gefahr ist auf rechter Seite viel größer als auf linker Seite – und im Übrigen ist Herr Ramelow von der Linken doch kein Extremist. Diese Gleichsetzung von rechts und links ist angesichts der deutschen Geschichte nicht hinnehmbar.“ Nochmals – warum nicht?

Hugo Müller-Vogg, bekanntlich linker Sentimentalitäten unverdächtig, schrieb: „Natürlich kann man AfD und Die Linke nicht gleichsetzen. Die einen schwelgen in völkischen Kategorien, und die anderen träumen von der klassenlosen Gesellschaft. […] Ein fundamentaler Punkt kommt hinzu: Die AfD appelliert an rassistische und ausländerfeindliche Ressentiments und duldet Antisemiten in ihren Reihen.“ Der linke Traum wird wohl absehbar Traum bleiben, die „völkischen Kategorien“ erweisen sich dagegen als politisch außerordentlich virulent und die „rassistischen und ausländerfeindlichen Ressentiments“ marschieren auf den Straßen. Koalitionäre Präferenzen dürften so für eine „bürgerliche Mitte“ – so sie ihre Mitte nicht (schon) verloren hat – keine Frage mehr sein, oder?

Klar, man kann als Christ- oder Freidemokrat gegen eine Zusammenarbeit mit Der Linken sein, die auf vielen Politikfeldern eine deutlich andere Politik vertritt. Nur gibt es eine Sache, die grundsätzlicher ist als Rüstungsetats, Bildungs-, Wohnungs- und Rentenpolitik: Das Verhältnis zur pluralen Demokratie. Das ist der politische Lackmustest, und der verbietet jedes Ineinssetzen von Linkspartei und AfD. Konkret: Erstere hat sich in ihrer übergroßen Mehrheit seit 1990 über innere Kämpfe in die bundesdeutsche Demokratie hineingefunden; hat deren Spielregeln akzeptiert. Man könnte sogar sagen, sie hat geholfen, die „Wendewut“ vieler Ostdeutscher in geordnete demokratische Umgangsweisen miteinander zu lenken; das änderte sich erst mit dem Erstarken der Rechten. Die Linke ist so den Weg fortlaufender Anpassung an den demokratischen Konsens gegangen; sie hat nicht das System verändert, sondern umgekehrt. Die Linke ist heute nur noch in historischer Rückschau eine Partei in der SED-Nachfolge und mitnichten eine Gefahr für die liberale Demokratie. Die AfD schon. Ihre Minimalvorstellungen von Demokratie kämen laut Götz Kubitschek Viktor Orbáns „illiberaler Demokratie“ nahe: „Selektive“ Demokratievorstellungen, Beschneidung individueller Rechte, Diskriminierung von Menschen nichtweißer Hautfarbe und nichtchristlichen Glaubens, was sie zu inneren Feinden macht, „Reinigung“ von Medien, Kultur- und Bildungseinrichtungen von „linken“ Einflüssen und deren stramme nationale Ausrichtung. Hierzulande gelte es gegen die Folgen eines „linken Erziehungsprojekts“, das die Deutschen seit Ende der 60er Jahre um ihre Werte, ihre Kultur, ja ihre Männlichkeit brachte, vorzugehen. Aber – wie gesagt – das ist die Minimalvariante.

Es dürfte – als Antwort auf oben gestellte Frage – angesichts all dieser politischen Realitäten keinen Zweifel mehr geben, wer der politische Partner der „bürgerlichen Mitte“ sein kann und wer nicht. Weit gefehlt! Die Parteispitze der CDU hält eisern am Kooperationsverbot mit Links und Rechts fest. Zugleich ist es offenkundig, dass die Strategie, AfD und Die Linke in einen Topf zu werfen, gescheitert ist. Der Rücktritt der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer ist beredter Ausdruck für dieses Dilemma; sie vermochte sich nicht gegen den wachsenden Einfluss zentrifugaler Kräfte durchzusetzen. Namentlich die Ostverbände der CDU tragen sie nicht (mehr) mit und in den Westverbänden übt man sich schon seit geraumer Zeit in „Lockerungen“ gegenüber der Linkspartei. Der CDU-Politiker Norbert Röttgen, gerade gefragt nach einer möglichen Tolerierung der Linkspartei in Thüringen durch die CDU, trug Bemerkenswertes bei: Verführe die Union so, würde aus ihr eine „Machtorganisation.“ Das ist sie doch! Die Bundeskanzlerin und langjährigen CDU-Vorsitzenden Angela Merkel legte es geradezu darauf an, eine solche „Organisation“ aus der Partei zu formen; ihre Politik war vorrangig darauf ausgerichtet, Bundestagswahlen zu gewinnen, also an der Macht zu bleiben. Damit war Merkel auch erfolgreich, was sie zum unangefochtenen Machtzentrum in der CDU werden ließ. Mit dieser politischen Autorität ausgestattet, gelang es ihr, die häufig als „Sozialdemokratisierung“ der CDU apostrophierte Politik durchzusetzen. Das war eine prinzipienarme, auf Umfragen gestützte Orientierung an politischen Opportunitäten, was gegebenenfalls die Kaperung sozialdemokratischer Politikansätze bedeuten konnte. (Vielleicht ist der viel gescholtene, von Merkel ermöglichte Zustrom der Flüchtlinge 2015 eine Ausnahme; bald jedoch überließ sie die Sache dem Selbstlauf). Flankierend sozusagen kam es zu einer Entpolitisierung der Politik: „Sie kennen mich.“ Wen und welche Politik kannte man da? Und Merkel ist, wie Kramp-Karrenbauers Rückzug zeigt, immer noch die (un)heimliche Chefin der Partei.

Diese entkernte Politik entfaltet jetzt ihre toxische Wirkung. Die Entfremdung innerhalb der CDU, die mangelnden Bindekräfte respektive hohen Fliehkräfte sind Folge dieser häufig als „alternativlos“ bezeichneten Politik, dieses eher reaktiven (manchmal erratischen) Handelns denn aktiven Gestaltens – bis auf die fatale Sparpolitik –, des ans Beliebige grenzenden Pragmatismus und namentlich des Mangels an visionären Ideen, wie die Demokratie auf dem Hintergrund der immer wieder beschworenen „Herausforderungen“ weiterentwickelt werden könnte. All das ist das Erbe, mit dem es die CDU heute zu tun hat. Ihr fehlt offenbar das notwendige politische Potenzial, die innere Stringenz, oben benanntes Dilemma aufzulösen. Die CDU muss sich endlich fragen, was die „Ränder“ politisch „böse“ macht. „Böse“ ist eine leere Formel, bar jedweden Kontextes und Inhalts. Solange diese Leerformel nichts seitens der CDU inhaltlich „bearbeitet“, gefüllt wird, wird es für sie dabei bleiben: Wenn sie sich nach links öffnete, bräche der Damm nach rechts krachend. Der Leitfaden dieses Arbeitsprozesses kann nur das Grundlegende dieses Landes sein – seine demokratische Verfasstheit und Verfassung.

Mich beruhigt in der gegenwärtigen Situation, dass „… es in Deutschland noch eine deutlich stabilere gesellschaftliche Substanz (gibt), als wir sie in den anderen Ländern gefunden haben“, sagt die Politologin Laura-Kristine Krause. Die landesweiten spontanen Proteste gegen die Kemmerich-Wahl bestätigen das. Tröstlich.