23. Jahrgang | Nummer 4 | 17. Februar 2020

Der Einsiedler von Hiddensee

von Dieter Naumann

Amüsant und tragisch zugleich ist die Geschichte Alexander Ettenburgs, der aus gesundheitlichen Gründen für zwölf Jahre zunächst Altefähr auf Rügen und später Hiddensee zu seiner Wahlheimat erkor. Am 28. Februar 1858 als Sohn des schlesischen Gutsherrn Eggers geboren, sollte Alexander Friedrich Otto Eggers eigentlich Offizier werden, konnte seinem Vater aber die Erlaubnis zur Theaterlaufbahn abtrotzen und stand ab 1879 auf der Bühne. Unter dem Künstlernamen Ettenburg führte er bald ein dermaßen ausschweifendes und seine Gesundheit angreifendes Leben, dass ihm die Ärzte rieten, zur Genesung ans Meer zu ziehen. Mit seinem Erbe, von dem laut Ettenburg nach dem Tode seines Vaters 1886 „ein grosser Teil […] infolge der Erbschaftsregulierung und ungünstiger landwirtschaftlicher Konjunkturen verloren ging“, erbaute er 1886 am Eingang des heutigen Kurparks von Altefähr auf Rügen die Villa Alexander. Im Reiseführer von Dunker 1888 warb er als „Villenbesitzer A. Ettenburg“ unter anderem mit der Lage „direkt am schattigen Park mit Curhaus […] mit herrlicher Seeaussicht“. Geboten wurden „Familienwohnung mit ausgest. Wirthschaftsräumen“, „einf. Zimmer 10 M., volle Pension 25 M. pro Woche. Warme Bäder i. Haus. Versorgung von Trinkbrunnen“. Für „Nervenkranke und Reconvalescenten“ sei die Herberge auch ein geeigneter Winteraufenthalt. Daneben versuchte Ettenburg durch Vortragsreisen mit Rezitationen eigener Werke Urlauber nach Altefähr und natürlich in seine Pension zu locken. Die Stralsundische Zeitung vom 1. August 1890 berichtete: „Für die Unterhaltung unserer Gäste sorgt der Besitzer der ‚Villa Alexander‘, die übrigens bis auf den letzten Platz besetzt ist, Herr Ettenburg, in weitgehendstem Maße, auch für den gestrigen Abend hatte derselbe eine Soiree veranstaltet, in welcher geschätzte Dilettanten aus Stralsund mitwirkten.“

Die Rügensche Bade- und Hotel-Zeitung registrierte Anfang Juli 1893 schon „12 Fremde, darunter 3 Finländer, von denen der Eine den Ort schon zum zweiten Male aufsucht. Am Abend des 6. Juli veranstaltete der Besitzer von Villa Alexander und des Schwedischen Pavillons eine Verloosung zum Besten der Hilfsbedürftigen in Schneidemühl. Die Sammelbüchse ergab einen Ertrag von 8 Mk 50 Pf.“ Ettenburg sei „ein thatkräftiger Gesinnungsgenosse der Baronin Bertha v. Suttner und des Oberstlieutnant a. D. v. Egidy, für deren ideal-soziale Bestrebungen er mehrfach schon öffentlich das Wort ergriffen.“

Der „Villenbesitzer“ beschäftigte sich wohl auch mit Natur und Geschichte seines neuen Heimatortes, zumindest deutet eine Bemerkung des rügenschen Volkskundlers Alfred Haas in Band 14 der „Baltischen Studien“ von 1910 darauf hin. Demnach soll Ettenburg über alte Schanzen und Wälle bei Altefähr informiert haben.

Allerdings erwies er sich bald als wenig geschäftstüchtig: Als man ihm anfangs die Schankkonzession verweigerte, lud er die Einwohner von Altefähr häufig zu Gratisgetränken ein. Auch hatte er bei seinen Angestellten keine glückliche Hand, denn die bedienten sich hemmungslos aus seiner Kasse. Obwohl ihn seine Verwandte Louise Treichel, die ihr Vermögen in die Villa angelegt hatte, tatkräftig unterstützte, musste Ettenburg seine Pension 1894 zunächst verpachten und schließlich weit unter Wert verkaufen. Nach eigenen Angaben büßte er dabei fast sein ganzes Vermögen von über 30.000 Mark ein.

1895 zog er mit Esel Hansi und Kater Pussi auf die Insel Hiddensee, wo er durch Vorträge, selbst verfasste Gedichte und Inselreiseführer („Die Insel Hiddensee, das Ostseebad der Zukunft, und das westliche Rügen“, Bergen 1905 und 1912 im Selbstverlag für eine Mark) immer mehr Künstler für die Insel begeisterte. Schließlich konnte er sogar Kapitän Gustav Bentzien von der „Genossenschaftsreederei Hiddensoe“ dazu bewegen, eine regelmäßige Fährverbindung nach Hiddensee einzurichten. Dampfer „Caprivi“ soll an den Wochenenden „knüppeldicke voll“ gewesen sein.

Ettenburg eröffnete 1898 im Dorf Grieben in einer alten Fischerkate die „Schwedische Bauernschänke“. Die Kate hatte er für 100 Mark vom Honorar für sein „Dramatisches Gedicht Wunna die Jungfrau auf Rügen“ gekauft. Das Gedicht, ein auf Jasmund spielendes Theaterstück in zwei Akten, war 1894 bei Ferdinand Becker in Sassnitz erschienen. Bald darauf erbaute er sich auf dem Dornbusch eine primitive Holzhütte (er selbst nannte sie „Bergwaldschänke Eremitage auf Tannhausen“), in der er wohnte. An der Rückseite der Hütte entstand 1905 ein hölzerner Anbau, die „Einsiedelei Mathilde“, die Ettenburgs im Sommer als Gesellschaftsraum dienende Bibliothek enthielt. In einer Meeresbucht, von ihm „Swantevitschlucht“ genannt, entstand ein Naturtheater, in dem der Künstler mit Kollegen und Fischern als Statisten eigene Werke aufführte.

Seine Sommergäste kamen in primitiven schilfgedeckten Holzhütten unter, er selbst propagierte das einfache Leben, ging barfuß, kleidete sich mit selbst entworfenen Gewändern (meist einem weißen Talar mit schwarzem Kragen und einer schwarzen Kappe, hin und wieder auch einer Art Mönchsgewand).

Das sonderliche Verhalten Ettenburgs – so richtete er für sich ein Mausoleum mit eigenem Verbrennungssarg ein – und die nicht immer hygienischen Verhältnisse in seinem „Hotel“ führten zu Auseinandersetzungen. Besonders der seit 1896 amtierende Amtsvorsteher Philipp Schönrock hatte es auf den Einsiedler abgesehen. Ettenburg soll 14 Prozesse gegen Schönrock gewonnen und durch eine beim Berliner Innenministerium eingereichte Beschwerde 1904 sogar dessen Amtsenthebung bewirkt haben.

1910 musste die „Eremitage auf Tannhausen“ dennoch einer Gaststätte weichen: Der Berliner Kaufmann und Hotelier Emil Hirsekorn hatte eine weitaus größere Pachtsumme für das Gelände am Dornbusch geboten und dem Kloster zum Heiligen Geist Stralsund als Eigentümer der Insel außerdem versprochen, statt eines „Zigeunerladens“ passende Unterkünfte für Kurgäste in einem modernen Holzbau als Zierde und Anziehungspunkt für Hiddensee zu schaffen (heute „Hotel zum Klausner“).

Immer sonderlicher werdend (er schlief im Sarg), verfiel Ettenburg mehr und mehr dem Alkohol, die Besuche von Gästen und Einheimischen wurden seltener. Bald war nur noch von „Zigeunerzelten“ und dem „Spektakelwald mit Oberpriester“ die Rede. 1909 kündigte ihm das Stralsunder Kloster den Pachtvertrag auf dem Dornbusch, er zog sich deshalb nach Vitte zurück und gründete dort seine Pension „Einsiedelei Mathilde“.

Anfangs noch von Gästen besucht, machten ihn Alkoholmissbrauch, düstere Todesahnungen und geistige Verwirrungen immer einsamer. Bei einem Ausflug nach Stralsund unternahm er mitten auf der Straße einen Selbstmordversuch und starb am 30. Oktober 1919 im Krankenhaus. Rügen-Autor Wolfgang Rudolph meinte dagegen, Ettenburg sei in einer Stralsunder Hafenkneipe verstorben. Gewünscht hatte er sich wohl, auf dem Friedhof von Hiddensee begraben zu werden. Lange Zeit nahm man an, die Urne mit seiner Asche sei auf dem Postweg von Greifswald nach Hiddensee verloren gegangen oder von einem Fährdampfer ins Wasser geworfen worden sein. Tatsächlich soll die Urne von Ettenburg am 27. Januar 1920 unter Glockengeläut in seiner schlesischen Heimat bestattet worden sein.

Wenig bekannt sein dürfte, dass Gerhart Hauptmann und Alexander Ettenburg einander offensichtlich schätzten. Ettenburg schrieb in einem Gedicht: „Und bist ein Künstler, Dichter du: / Kehr ein auf Hiddensee! / Wie Gerhart Hauptmann find’st Ruh’, / Im Wald auf Bergeshöh’!“ Hauptmann seinerseits erwähnte 1935 bei seiner Dankrede zum 50. Jahrestag seines ersten Inselbesuches nur einen einzigen Inselbewohner namentlich, den Einsiedler Alexander Ettenburg.