von Jan Opal, Gniezno
Verschrobenheit, so lehrt Peter Hacks, ist die Kehrseite der Anpassung ans Unerträgliche. Piotr Ikonowicz, Polens letzter Sozialrebell (siehe Blättchen Nr. 23/2013), zeigte sich nach dem 13. Oktober 2019 sehr zufrieden, denn die Nationalkonservativen konnten ihre Regierungsmacht behaupten. Ihn freute, dass die Liberalen, also die auf die geltende Verfassung pochenden Kaczyński-Gegner, nicht ans Regierungsruder gekommen sind. Zu den Liberalen rechnet er einen breiten Bogen bis hin zum allergrößten Teil der neuen Linksfraktion, die mit 49 Abgeordneten drittstärkste Kraft im Sejm geworden ist. Bereits in den zurückliegenden Jahren hatte er die aus seiner Sicht große Leistung der nationalkonservativen Regierung hervorgehoben, wenigstens die Tür weit aufgestoßen zu haben für eine neue Sozialpolitik, die es in Polen seit Jahrzehnten nicht gegeben habe. Bis dahin hätten nur dem (neoliberal verstandenen) Tüchtigen im Lande alle Türen offen gestanden, jetzt aber würden auch andere wenigstens zum bescheidenen Tisch gebeten werden. Mit einem schönen Bild kleidet er seine Position gerne ins illustrative Argument: In der Höhe zwischen zwei Hochhäusern ist ein Seil gespannt, auf dem der geschickte Tänzer auch noch auf der Geige zu spielen versucht. Doch ganz unten gibt es den kritischen Einspruch gegen den zu hörenden Klang, denn der Virtuose auf dem Seil sei doch alles andere als ein neuer Paganini.
Die Antwort auf die Frage, welches Fahrwasser für die Linke das gefährlichere sei, das der Liberalen oder das der Nationalkonservativen, ist für Ikonowicz eindeutig beantwortet – das der Liberalen. Ein entscheidendes Kriterium ist dabei die sozialpolitische Flanke, alle anderen Fragen sind für die Entscheidung von untergeordneter Bedeutung. Insofern sind ihm Polens heutige Nationalkonservative eine Formation, die – im Unterschied zu den Liberalen – den Arbeiter-Ethos der „Solidarność“ aus den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht restlos aufgekündigt habe, auch wenn die Durchführung aus sozialistischer Perspektive viel zu wünschen übrig lasse. Die Verräter an dem auf die Industriearbeiterschaft aufgebauten sittlichen Gefühl der „Solidarność“-Gründungszeit sind indes vor allem im liberalen Feld zu suchen, da bleibt für Ikonowicz kaum eine Frage offen. Und die Sogwirkung der liberalen Illusionen bindet auch den größten Teil des linken Flügels im Parlament – der beste Beweis für die Gefahr.
Aufgabe der Linken müsse es künftig also sein, den auf Sozialpolitik anschlagenden Teil in der Wählerschaft der Nationalkonservativen wieder für einen Sozialismus zu gewinnen, der im Kern aus moderner Sozialpolitik besteht und über Arbeiterselbstverwaltung von unten nach oben konstituiert ist. Soweit, so gut. Ikonowicz rechnet damit, dass die Logik der inneren Entwicklung die Nationalkonservativen immer mehr in eine Ecke treiben werde, in der sie ihre sozialpolitischen Versprechen aufgeben beziehungsweise verraten müssen. Um in dem Bild zu bleiben: Der auf dem Seil tanzende Geigenspieler verliert das Gleichgewicht und stürzt ab, wird aber unten – bevor er dort hart aufschlägt – noch abgefangen mit seinem musikalischen Versprechen. Als den natürlichen politischen Erben für die verwaiste soziale Wählerschaft des Kaczyński-Lagers sieht Ikonowicz eine Linke, die tatsächlich herauswill aus dem herrschenden kapitalistischen System.
Hin zum Sozialismus? Ja, die Alternative zum bestehenden gesellschaftlichen System ist für Ikonowicz ganz klar mit Sozialismus gezeichnet, den er allerdings als System blühender Arbeiterselbstverwaltung versteht. Die Entwicklungen hätten seinerzeit das „Solidarność“-Lager abgedrängt in den kapitalistischen, schließlich neoliberalen Sumpf, was sich als klarer Verrat an den Arbeiterinteressen erwiesen habe. Nicht von ungefähr stehen die Gespräche am Runden Tisch in den Frühlingswochen 1989 dabei im Mittelpunkt der Kritik. Während aber die Nationalkonservativen jetzt kräftig herumposaunen, der Runde Tisch sei niederträchtiger Verrat an Polens Interessen gewesen, weil die Kommunisten nicht zur Rechenschaft gezogen worden seien, kommt Ikonowicz von der anderen Seite: Der Runde Tisch sei ein niederträchtiger Verrat an Polens Arbeitern gewesen, weil alle Seiten in das bereitstehende liberale Boot gesprungen seien.
Gewissermaßen wiederholt sich die bekannte Geschichte: Die Arbeiterschaft soll den Schauplatz der Geschichte nicht länger als serviles Gefolge betreten, sondern als selbständige Macht, die sich ihrer eigenen Verantwortlichkeit bewusst ist. Wie nun aber dieser hehre Anspruch sich behaupten soll in einer Gesellschaft, in der die Arbeitswelt innerhalb der letzten dreißig Jahre komplett durcheinander gewirbelt wurde, in der ein Großteil der Beschäftigten beispielsweise nur noch flüchtig zusammengefügte Projektarbeit kennt, bleibt das Geheimnis des Sozialrebellen. Politisch aber setzt er auf die sechs Abgeordneten, die für die linksgerichtete Razem-Partei in den Sejm eingezogen sind und der 49-köpfigen Linksfraktion angehören.
Schlagwörter: Jan Opal, Linke, Nationalkonservative, Piotr Ikonowicz, Polen, Sozialpolitik