von Wolfgang Brauer
Mit Maschinen wäre es auch gegangen. Der wissenschaftliche Gewinn der Unternehmung sei den ganzen Aufwand nicht wert gewesen. Die ganze Übung sei doch sowieso nur eine Show-Nummer des Kalten Krieges gewesen, weil der Kennedy dem Chrustschow den Gagarin übel nahm … und so weiter und so fort. Die Argumente, die bis zum heutigen Tage bemüht werden, das „Apollo 11“-Projekt der NASA klein zu reden, höre ich seit dem Tag, an dem Neil Armstrong seinen berühmten ersten Fußabdruck im Staub des Mare Tranquillitatis hinterließ. Das ist jetzt 50 Jahre her – auch ich hockte seinerzeit vor dem Fernsehbildschirm und war genauso fassungslos ob des geschauten Undenkbaren wie alle anderen 600 Millionen Zuschauer weltweit. Allen Kritikern zum Trotz: der 21. Juli 1969 gehört wie der 12. April 1961, der Tag der Erdumrundung Juri Gagarins, in die Annalen der Menschheit.
Zu einer sowjetischen bemannten Mondmission – wiewohl deren Vorbereitungen parallel zu den US-amerikanischen recht weit fortgeschritten waren – kam es nicht. Die für das Projekt vorgesehene N1-Rakete von Sergej Koroljow und Wassili Mischin erlebte zwischen 1969 und 1972 vier katastrophale Fehlstarts und erwies sich mithin der unter der Leitung Wernher von Brauns und Arthur Rudolphs entwickelten Saturn V unterlegen. Bis die NASA ihr Mondprogramm einstellte und zur kostengünstigeren Spaceshuttle umsattelte, brachte es dieses Modell zwischen 1969 und 1975 auf 12 erfolgreiche Starts. Was Wunder, dass im Umfeld des diesjährigen Jubiläums der ersten bemannten Mondlandung das smarte Lächeln von Brauns wieder und wieder über die Bildschirme flatterte.
Dessen ingenieurtechnische Meisterleistung ist unbestritten, auch wenn der ehemalige Shootingstar der Berliner Piraten-Partei, Christopher Lauer, kürzlich im Rahmen einer Bachelor-Arbeit (sic!) messerscharf nachgewiesen hat, dass von Brauns Dissertation schlichtweg ein Plagiat und seine erste Rakete – das „Aggregat 1“ – flugunfähig gewesen sei. Spätestens das „Aggregat 4“ war zum Leid von zirka 8000 unter den Wirkungen der Sprengladungen dieser Rakete in London und Antwerpen gestorbenen Menschen überaus flugfähig. Berühmt-berüchtigt wurde dieser Todbringer unter dem Kürzel V2 („Vergeltungswaffe 2“). Eine weitere Lüge im dichten Geflecht der Unwahrheiten um diese Waffenentwicklungen: Als ob erst seit den britischen Bombardierungen deutscher Städte an der A4 und ihren tödlichen Schwestern gearbeitet worden wäre …
Wernher von Braun und sein Team wollten es dabei nicht bewenden lassen. Bereits bei der Anlage der Prüfstände in Peenemünde im Jahr 1938 wurde der Prüfstand VII für die A10 konzipiert. Diese sollte als Startstufe für die A9 dienen – mithin ein zweistufiges Raketenprojekt mit interkontinentaler Reichweite. Interkontinental? 1938? Im Peenemünder Museum ist eine Zielkarte zu sehen: Manhattan Island. Der Raketenbaron und seine Auftraggeber hatten New York City im Visier. Für die A9 – eine geflügelte Weiterentwicklung der A4 – waren aus Gründen der Zielgenauigkeit auch bemannte Versionen in der Planung. Es steht zu befürchten, dass sich die Ingenieure des Todes nicht mit x-beliebigen „klassischen“ Sprengmitteln begnügt hätten. Die Elite der deutschen Kernphysik wie Werner Heisenberg, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker arbeitete an der Atombombe. Albert Einsteins Warnung an Franklin D. Roosevelt geschah nicht ohne Grund. Beim Designen der Saturn V übrigens hat von Braun auf seine Peenemünder Entwicklungen zurückgegriffen.
Chef der Peenemünder Heeresversuchsanstalt war Generalmajor Walter Dornberger. Dornberger gehörte ebenso wie von Braun und Rudolph zu den „Peenemündern“, die nach 1945 das Raketenprogramm der Vereinigten Staaten voranbrachten. Er hatte sich 1958 im Geleitwort zur 3. Auflage seiner Peenemünde-Erinnerungen „V2 – Der Schuß ins Weltall“ zur steilen These hinreißen lassen, dass die Tore des Weltenraumes „durch die Peenemünder Arbeiten geöffnet wurden“. Damit war der Grundstein zur Peenemünde-Legende gelegt. In einer bei Ullstein erschienenen, immer noch verlegten Taschenbuchausgabe setzt Eberhard Rees noch 1980 einen drauf. Rees war in Peenemünde „rechte Hand“ von Brauns und ab Spätsommer 1943 an der Verlagerung der Produktion in die Stollen von Dora Mittelbau beteiligt. Allein bei deren Anlage starben bis zur Inbetriebnahme der Raketenproduktion mindestens 20.000 Häftlinge. Bei Rees liest sich das so: „Steht doch an der Wiege dieser unser Zeitalter mitbestimmenden Entwicklung Peenemünde, wo unter der Führung von General Dr. Dornberger […] mit dem Aggregat A 4, auch V 2 genannt, der Grundstein für die praktische Raumfahrt gelegt wurde.“
Rees nimmt damit einen Satz seines Chefs Dornberger auf, der am 3. Oktober 1942 – dem Tag des ersten erfolgreichen Startes einer A4 mit einer immerhin erreichten Flughöhe von 84,5 Kilometer – erklärt habe: „Dieser 3. Oktober 1942 ist der erste Tag eines Zeitalters neuer Verkehrstechnik. Es ist der Beginn der Raumschifffahrt.“ Ich zitiere diesen an Zynismus kaum zu übertreffenden Spruch nach einem Vortrag von Werner Magirius „Peenemünde – von damals bis heute“ aus der 1. Ausgabe der Raketenpost 1993. Die wurde seinerzeit unter dem Signet „Peenemünde. Geburtsort der Raumfahrt“ vom Förderverein des Historisch-Technischen Museums Peenemünde herausgegeben.
Inzwischen hat das Museum diese Geschichtsklitterung weitgehend überwunden und zeigt im Kraftwerk der Heeresversuchsanstalt seit 2001 eine sehenswerte Darstellung der Geschichte des Ortes und der mit ihm wohl unlösbar verbundenen Entwicklung der „Wunderwaffen“ der Nazis. Gleichwohl entgingen die seinerzeitigen Ausstellungsmacher nicht der Faszination der technischen Weiterentwicklungen der deutschen Raketentechnik nach 1945 – eben bis hin zu den bemannten Weltraumprogrammen der Sowjetunion und der USA. Inzwischen ist eine Neukonzipierung der Schau in Arbeit. Man darf gespannt sein.
In einer Sonderausstellung „Krieg oder Raumfahrt? Die Versuchsanstalten Peenemünde in der öffentlichen Erinnerung seit 1945“ widmet sich das Historisch-Technische Museum derzeit auch seiner eigenen Geschichte. Schritt für Schritt kann der Besucher den langen und mitnichten konfliktfreien Weg zur aktuellen, einigermaßen ausgewogenen musealen Darstellung nachvollziehen. Wobei die Ausstellungsmacher einräumen, dass bis heute „die militärhistorischen, fortschrittseuphorischen und verbrechenszentrierten Narrative“ parallel zueinander fortbestünden.
Vielleicht machte es Sinn, diese „Narrative“ einfach zu ignorieren und die Geschichte der A4 und der anderen Peenemünder Entwicklungen als das zu erzählen, was sie tatsächlich war: Die Geschichte eines gigantischen Waffenlabors, das nur ein Ziel hatte: den unmenschlichsten aller Kriege für ein verbrecherisches Regime, koste es was es wolle, zu gewinnen. Alles andere leistet nur der immer noch virulenten Gefahr der Verharmlosung des dort Geschehenen Vorschub. Die „Raketenmänner“ mögen vom Mond geträumt haben. Ihre Aufgabe in Peenemünde war die Entwicklung möglichst effizient tötender Waffen. Die erfüllten sie mit großer Hingabe und mörderischen Erfolgen. 1959 zitierte DER SPIEGEL den britischen Regisseur John Lee Thompson, der im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Film „Wernher von Braun – Ich greife nach den Sternen“ (1960) äußerte, „Wenn wir ihn 1945 erwischt hätten, so hätten wir ihn sicher vor das Nürnberger Tribunal stellen lassen. Und vielleicht wäre er gehenkt worden.“ Thompson – im Krieg Angehöriger der Royal Air Force – beugte sich schlussendlich dem Druck seiner Produzenten, also de facto dem von Brauns und seiner amerikanischen Auftraggeber, und lieferte mit seinem Film eine Reinwaschung des SS-Sturmbannführers a. D. vom Feinsten.
Der Kampf um die Deutungshoheit der Geschichte Peenemündes ist noch nicht ausgestanden. Das „Apollo 11“-Jubiläum hat das wieder nachdrücklich bewiesen. Tagtäglich kann man sich die erschreckende Lebensfähigkeit des Peenemünde-Mythos durch die Reaktionen vieler Besucher des dortigen Museums bestätigen lassen. Dazu bedarf es nicht der kitschigen V1- oder V2-Souvenirteller für „national gesinnte“ Touristen. „Auf diese technischen Meisterleistungen kann man nur stolz sein“, teilte mir ein Freund begeistert nach einem Besuch des Historisch-Technischen Museums mit. Da war es wieder, das große Feigenblatt der „alten Peenemünder“. Nach deren Nachkriegsuminterpretation der eigenen Biographie war das Militär notgedrungenermaßen der Sponsor für das „eigentliche Ziel“. „Krieg oder Raumfahrt?“ ist eine seit langem überfällige Ausstellung.
Krieg oder Raumfahrt? Die Versuchsanstalten Peenemünde in der öffentlichen Erinnerung seit 1945, Sonderausstellung im Historisch-Technischen Museum Peenemünde/Usedom, noch bis 12. Januar 2020; bis September täglich 10 bis 18 Uhr, ab Oktober täglich 10 bis 16 Uhr.
Schlagwörter: Krieg, Peenemünde, Raketen, Raumfahrt, Wernher von Braun, Wolfgang Brauer