von Ulrich Busch
Der digitale Kapitalismus ist gegenwärtig das dominierende Entwicklungsregime in der Welt. Sein Aufstieg begann mit dem Niedergang des industriebasierten fordistischen Kapitalismus während der 1970er und 1980er Jahre zusammen mit dem Siegeszug des Finanzmarktkapitalismus in den Metropolregionen Nordamerikas, Asiens und Europas. Seitdem hat er fast alle Gebiete der Erde erobert und beherrscht so ziemlich alle Volkswirtschaften, Bereiche und Branchen der Wirtschaft sowie das soziale und kulturelle Leben des Großteils der Weltbevölkerung.
Mit der Entstehung und Verbreitung des kommerziellen Internets in den 1990er Jahren entstand für ihn eine technologische und logistische Basis, die seitdem immer weiter ausgebaut und perfektioniert worden ist. Die durch das Platzen der Dotcom-Blase in den Jahren 2000 und 2001 hervorgerufene Krise hat diese Entwicklung keineswegs aufgehalten, sondern ganz im Gegenteil enorm beschleunigt, indem sie eine „rapide Vermachtungs- und Konsolidierungsdynamik“ (Ulrich Dolata) bewirkt hat. Im Sog dieser Krise sind sehr viele kleine und kleinste Unternehmen und Gründerexistenzen vom Markt verschwunden, während eine winzige Anzahl sehr großer Unternehmen zu mächtigen Gatekeepern aufgestiegen ist. Erstaunlich ist dabei vor allem, in welchem gigantischen Umfang es in kürzester Zeit gelungen ist, riesige Summen an Kapital anzuhäufen. Ohne die enorme Akkumulationskraft und rücksichtslose Umverteilungspraxis des global agierenden Finanzkapitalismus wäre dies nicht möglich gewesen und hätten sich Unternehmen wie Google, Apple und Facebook am Markt nicht durchsetzen und keine so große ökonomische und infrastrukturelle Macht erringen können, wie sie sie heute besitzen.
Interessant ist, dass sich mit der Digitalisierung nicht nur die Art und Weise des Wirtschaftens, der Produktion, Zirkulation und des Konsums radikal verändert hat, sondern dass diese Entwicklung nun auch an den Grundpfeilern der kapitalistischen Wirtschaftsordnung selbst rüttelt. Dies allerdings nicht in der Weise, dass dadurch die kapitalistische Produktions- und Gesellschaftsordnung grundsätzlich infrage gestellt und über eine „große“ Transformation der Weg zu einer postkapitalistischen Ordnung beschritten würde, sondern eher im Sinne einer Verstärkung und Intensivierung kapitalistischer Systemlogik und Funktionalität.
Gleichwohl impliziert diese Entwicklung zahlreiche Veränderungen und Innovationen, so dass der neue (digitale) Kapitalismus nicht mehr nach dem Muster des alten Wirtschafts- und Sozialmodells funktioniert und sich folglich auch nicht mehr mit den Kategorien der alten kapitalismusaffinen oder kapitalismuskritischen Theorie begreifen und beschreiben lässt. Zudem bewirkt die Digitalisierung, dass sich das für das alte Kapitalismusmodell – zum Beispiel in Deutschland für die Soziale Marktwirtschaft – vor Jahrzehnten entwickelte Instrumentarium der Wirtschafts- und Sozialpolitik als immer weniger tauglich erweist, um den digitalen Kapitalismus zu zügeln, zu regulieren und sozial verträglich zu gestalten. Insofern stellt das Entwicklungsregime des digitalen High-Tech-Kapitalismus die gegenwärtige Gesellschaft vor große Herausforderungen, indem es eminent wichtige Prinzipien der Ökonomie und des Sozialstaats untergräbt und damit das Funktionieren der gegenwärtigen Ordnung infrage stellt.
Diese Problematik lässt sich an folgenden Aspekten festmachen:
Erstens am Preismechanismus. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung bilden Preise das zentrale Allokationsinstrument für die vorhandene und die zu produzierende Güterwelt. In einer digitalisierten Ökonomie aber fehlen oftmals die Preise. Der Zugriff auf Güter ist vermeintlich „umsonst“ möglich, indem nicht mit Geld, sondern mit Daten bezahlt wird. Oder die Güter unterliegen nicht den Gesetzen der Ökonomie, da sie „frei“ und beliebig vermehrbar sind. Jeremy Rifkin nannte dieses Phänomen „Null-Grenzkosten-Gesellschaft“. Ohne Preise aber funktioniert eine Marktwirtschaft nicht – oder eben anders. Über das „Wie“ besteht jedoch bislang keine Klarheit.
Zweitens sind für eine Marktwirtschaft private Eigentumsrechte und deren Garantie durch den Staat unverzichtbar. Mit der Digitalisierung aber verlieren sich diese zunehmend, indem an die Stelle der alten Eigentumsordnung das Modell einer Sharing Economy tritt und Informationen, Daten, Verfügbarkeiten über Dinge und Funktionen wichtiger werden als der Besitz derselben. Damit verschiebt sich auch der Schwerpunkt der Arbeit, der Wirtschaft und des Lebens von der Warenökonomie hin zu Dienstleistungen, von der Produktion zur Kultur et cetera
Drittens geht es um Wettbewerb und die Verhinderung von Monopolen. Davon ist in der heutigen Welt kaum noch etwas zu spüren. Im Zuge der Digitalisierung haben es „einige wenige Internetgiganten“ geschafft, sich in relativ kurzer Zeit „eine Monopolstellung in ihren Märkten aufzubauen“ (Achim Wambach) – Google, Facebook, Microsoft, Apple und andere. Dies verschafft ihnen die Möglichkeit, ihre Marktmacht massiv zu missbrauchen, was sie auch tun und wofür sie von der Europäischen Union regelmäßig zu Strafen von mehreren Milliarden Euro verurteilt werden. Dies hält sie aber nicht davon ab, es weiterhin zu tun. Monopole zerstören jedoch die marktwirtschaftliche Wettbewerbsordnung und funktionieren diese langfristig um zu einer gänzlich anderen, einer globalen monopolistischen Ökonomie.
Viertens sind Voraussetzungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung im herkömmlichen Sinne die Existenz einer unabhängigen Zentralbank und einer staatlichen (oder überstaatlichen) Geldpolitik. Auf diesem Gebiet vollzieht sich der neueste Angriff der Internetgiganten. Diesmal ist es Facebook, das mit einer eigenen Währung (Libra) aufwarten will und damit die bestehende Geldordnung zerstören würde.
Um die ganze Tragweite des letztgenannten Projekts zu erfassen, ist es zweckmäßig, zwischen Geld (Zentralbankgeld und Bankengeld), Zahlungsinstrumenten und Währung zu unterscheiden. Bestimmte Zahlungsinstrumente wie Debit- und Kreditkarten sind privat, ebenso das Giralgeld, das Geschäftsbanken via Kredit emittieren. Nicht aber das Zentralbankgeld, also die Banknoten und Guthaben bei der Notenbank. Und schon gar nicht die Währung, über die bislang nur Staaten entscheiden können. Facebook plant jetzt, dieses System zu unterlaufen, indem das Unternehmen privates Geld in Gestalt einer eigenen Weltwährung emittieren will, das jeglichem Einfluss von Staaten entzogen ist und keiner Regulation durch Zentralbanken oder Finanzinstitutionen unterliegt. Auch soll seine Zirkulation sich außerhalb des Bankensystems vollziehen, also komplett in Konkurrenz zu diesem.
Sollte dieser Coup gelingen, so wäre damit das Ende des alten marktwirtschaftlichen Kapitalismus besiegelt und die Welt einem neuen monopolistischen digitalen Kapitalismus ausgeliefert. Einem System, das zudem auch noch von US-Unternehmen dominiert wird und alles andere als stabil wäre. Auf jeden Fall würde dieses „Geldsystem der Zukunft“ die gesamte Finanzwelt auf eine Weise revolutionieren, die einer Unterwerfung unter die privaten Kapitalinteressen einiger weniger Monopolunternehmen gleich käme. Aber, wollen wir das wirklich?
Schlagwörter: Digitalisierung, Facebook, Kapitalismus, Ulrich Busch, Wirtschaft