22. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2019

Unverkennbare Architektur

von Mathias Iven

Sie gehören zum alltäglichen Erscheinungsbild: Weiße Bauten mit flachen Dächern – an zahllosen Orten finden wir die von der industriellen Bauweise geprägte Ästhetik des Bauhauses. Wobei der mittlerweile in die Umgangssprache eingegangene Begriff „Bauhaus“ nicht mehr nur allein das bezeichnet, was Architekten wie Mies van der Rohe oder Walter Gropius entworfen haben. „Bauhaus“ steht heutigentags ganz allgemein für die verschiedenen, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Strömungen der Moderne in Architektur und Design.
Das vor zehn Jahren von dem Fotografen Jean Molitor begonnene Projekt bau1haus hat es sich zum Ziel gesetzt, „globale Verbindungen und kosmopolitischen Austausch in der Architektur sichtbar zu machen“. Dass die Bauhaus-Ästhetik dabei „als zentrales Element innerhalb einer epochemachenden internationalen Bewegung in Architektur, Kunst und Design verstanden“ wird, erklärt sich von selbst. In einem opulenten Bildband versucht Molitor gemeinsam mit der seit 2016 am Projekt beteiligten Architekturhistorikerin Kaija Voss, einen Teil der internationalen Erfolgsgeschichte des Bauhauses zu dokumentieren und die weltweiten Entwicklungslinien der architektonischen Moderne aufzuzeigen.
Dementsprechend schlagen die Autoren eingangs zunächst einen weiten Bogen vom Jugendstil zur Moderne, um anschließend die Geschichte des Bauhauses von seiner Gründung in Weimar über die Jahre in Dessau bis hin zu seiner Selbstauflösung im Mai 1933 in Berlin zu skizzieren. Ein größerer Abschnitt widmet sich dem Thema „Berlin und die Moderne“ und damit den Bauten von Max und Bruno Taut, Hans Poelzig, Emil Fahrenkamp, Erich Mendelsohn und Hans Scharoun. Im Kapitel „Das Neue Bauen in Deutschland“ werden Objekte in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Nord- und Westdeutschland sowie in Bayern und Baden-Württemberg in den Blick genommen.
Auf rund 50 Seiten findet sich die (Bild-)Geschichte der Architektur der Neuen Sachlichkeit in Europa. Da gab es in England die von William Morris und John Ruskin begründete Arts-and-Crafts-Bewegung, in Frankreich wurde Le Corbusier zur zentralen Figur der Moderne, in Spanien war es Antoni Gaudí und in den Niederlanden wirkte die Gruppe De Stijl. In Italien kamen die Bezeichnungen Futurismus und Rationalismus auf, in Skandinavien nannte man die neue Richtung Funktionalismus und in Russland Konstruktivismus, in und um Prag entwickelte sich der tschechische Kubismus.
Schließlich widmen sich die Herausgeber auch dem sogenannten Internationalen Stil. So wurde der Nachruhm der Bauhaus-Schule speziell in den USA in erster Linie durch die hochrangigen Positionen von Gropius und Mies van der Rohe gefestigt: Der eine wirkte als Leiter der Architekturabteilung der Harvard University, der andere eröffnete 1939 sein Architekturbüro in Chicago.
Bis heute hat Jean Molitor Fotografien aus über 30 Ländern zusammengetragen, recherchiert sind Objekte in über 100 Ländern weltweit. Es bleibt also noch einiges zu tun … Im Interesse aller Bauhaus-Reisenden sollte man bei den nächsten Bänden aber bitte darauf achten, dass die Bildunterschriften sich nicht nur auf eine allgemeine Ortsangabe beschränken, sondern auch die konkreten Adressen einschließen. So – und das sei dem Projekt gewünscht! – könnte das Ganze früher oder später zu einem langersehnten Bauhaus-Atlas werden.

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Blicken wir 100 Jahre zurück: Weimar, 12. April 1919. Nach langem Hin und Her hatte die Provisorisch-Republikanische Regierung der Zusammenlegung von Großherzoglich-Sächsischer Kunstgewerbeschule und Großherzoglich-Sächsischer Hochschule für bildende Kunst zugestimmt. Die neue Einrichtung erhielt den Namen Staatliches Bauhaus in Weimar, ihr bereits zum 1. April berufener Direktor hieß Walter Gropius.
Was da entstanden war oder besser entstehen sollte, war jedoch weder eine Kunst- noch eine Architekturschule. In keinem der beiden Fächer konnte man einen Abschluss machen. Die ersten Lehrer, zukünftig Meister genannt, verfügten über keinerlei Lehrerfahrung, ein pädagogisches Konzept gab es noch nicht. Für Gropius war das eine Herausforderung. Dem Theaterintendanten Ernst Hardt, einem seiner Verbündeten, hatte er erklärt: „Ich komme mit Ungestüm nach Weimar mit dem festen Vorsatz, aus meiner Sache ein Ganzes zu machen. Oder, wenn das nicht gelingt, wieder schnell zu verschwinden.“ Auch den Standort verteidigte er: „Ich glaube bestimmt, daß Weimar gerade um seiner Weltbekanntheit willen, der geeignetste Boden ist, um dort den Grundstein einer Republik der Geister zu legen.“
Wie kam es dazu, dass gerade Walter Gropius diesen Posten bekam? Und wer überhaupt war dieser Mann, den das nur 14 Jahre existierende Bauhaus weltberühmt machte? Rechtzeitig zum Bauhaus-Jubiläum hat der Publizist Bernd Polster eine umfangreiche Biografie vorgelegt, die vor allem eins will: die Ikone Gropius auf Normalmaß zurechtstutzen. Zu diesem Zweck liest er Altbekanntes neu, weist auf Leerstellen hin und wirft durchaus berechtigte Fragen auf, fördert jedoch keinerlei neue Einsichten zutage.
Schon lange ist bekannt, dass Gropius – wie übrigens auch andere Architekten seiner Generation – über keinerlei Abschlüsse verfügte. „Reden, kommandieren, organisieren: Darin liegt der Schlüssel zu seinem späteren Aufstieg.“ Ja, da kann man Polster sicherlich zustimmen. Gropius war vor allem ein großer Organisator, der Projekte akquirierte und der es ganz offensichtlich verstand, Leute für sich einzunehmen – auch heute ist solcherart Talent, ob in der Wirtschaft oder in der Wissenschaft, unerlässlich. Was ist also das Problem? Gropius, so lautet Polsters Antwort, „war bereits als junger Mann ein wahrer Meister des Ungesagten. Die Kunst des Schweigens gehörte zum anderen Gropius: dem seiner Legende, an der er Zeit seines Lebens gearbeitet hat.“ Förderer wie den Hagener Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus oder den jahrelang an seiner Seite wirkenden Architektenkollegen Adolf Meyer erklärte der „Meister der geschickt platzierten Erinnerungslücke“ irgendwann zu „Unpersonen“. Sie passten ganz einfach nicht zu seiner Selbstinszenierung. Gropius wollte sich nicht mehr an sie erinnern und verbannte sie schließlich, wie Polster schreibt, in irgendwelche virtuellen „Geheimkeller“ oder „Keller der Vergessenen“.
In Polsters nicht gerade unumstrittener Biografie, die vor Geringschätzung gegenüber Gropius strotzt, gibt es noch einige solcher radikalen Urteile. Ob man allerdings, wie an anderer Stelle geschehen, von einem „Denkmalsturz“ sprechen sollte? Polster rüttelt zumindest am Denkmal und fordert damit die Architekturhistoriker heraus.

Jean Molitor / Kaija Voss: Bauhaus. Eine fotografische Weltreise / A photographic journey around the world, be.bra Verlag, Berlin 2018, 240 Seiten, 46,00 Euro.
Bernd Polster: Walter Gropius. Der Architekt seines Ruhms, Hanser Verlag, München 2019, 654 Seiten, 32,00 Euro.