22. Jahrgang | Nummer 9 | 29. April 2019

Teltschiks Rat

von Wolfgang Schwarz

Horst Teltschik war seit 1972 enger Mitarbeiter von Helmut Kohl und wurde nach dessen Amtsantritt als Bundeskanzler 1982 Leiter der Abteilung „Auswärtige und innerdeutsche Beziehungen, Entwicklungspolitik, Äußere Sicherheit“ im Bundeskanzleramt. In den Umbruchjahren 1989/90 war er Kohls engster außen- und sicherheitspolitischer Berater. Von 1999 bis 2008 leitete Teltschik die Münchner Sicherheitskonferenz. Für die Beziehungen zwischen Deutschland – respektive dem Westen – und Russland also ein Kenner und Zeitzeuge par excellence.
Der Initialfunke für das vorliegende Buch mag auf den April 2018 datieren, als die USA mit einer Cruise-Missile-Attacke besonders exponiert in den Syrienkonflikt eingriffen und die Gefahr eines direkten militärischen Zusammenstoßes mit Russland bestand. Der Autor schreibt in seiner Einleitung: „[…] die Welt war in diesen Tagen so nahe an einer Katastrophe wie seit den frühen 1980er Jahren nicht mehr.“ Und er benennt zugleich zwei Merkmale der derzeitigen Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, die wie unheilvolle Katalysatoren wirken: „Die verzerrte Wahrnehmung des Kontrahenten auf beiden Seiten ist nicht ungefährlich, denn sie verkleinert die diplomatischen Spielräume, steht einem Interessenausgleich im Wege und macht die rasche Eskalation von Konflikten wahrscheinlicher.“ Und speziell an die Adresse des Westens: „Die diplomatischen Rücksichtnahmen, die beim Verbündeten Saudi-Arabien (etwa im Fall Jamal Kashoggi – W.S.) greifen, sind bei Russland völlig ausgeschaltet. Das ist eine gefährliche Entwicklung.“
Die Grundfrage und die zentralen Überlegungen, die Teltschik umtreiben, sind diese: „Was wenn Moskaus Interessen im Kern defensiv sind, wenn es der russischen Führung tatsächlich darum geht, sich gegenüber einer wahrgenommenen Expansion des Westens zu behaupten und russische Interessen zu wahren? Dann würde eine Konfrontationsstrategie die Ängste und Vorannahmen nur bestätigen und in eine vermeidbare Eskalationsspirale führen. Eine auf Interessenausgleich und Rüstungskontrolle setzende Politik hätte in diesem Fall sehr viel bessere Aussichten.“
Vor diesem Hintergrund lässt Horst Teltschik die Geschichte der Ost-West-Beziehungen seit Ende der 50er Jahre Revue passieren, und da der Autor spätestens seit 1982 sowie praktisch bis 2008 ein nicht unmaßgeblicher Akteur in diesem Geschehen war, ergibt das eine ungemein kenntnisreiche Darstellung, durchweg analytisch überdies. Spannende Lektüre.
Vom westlichen Mainstream in der Bewertung maßgeblicher Ereignisse und Vorgänge setzt sich Teltschiks Betrachtung nicht nur einmal ab – und zwar immer mit guten Gründen. Deutlich wird das unter anderem an einem Beispiel aus dem Jahre 2007, das im Westen gemeinhin als Zäsur im Verhältnis Russlands zum Westen bewertet wird, und zwar im Sinne der Manifestation einer vollzogenen Hinwendung Moskaus und seines Präsidenten zur Konfrontation: Wladimir Putins berühmte und zu Unrecht berüchtigte Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz jenes Jahres. Damals standen im Zentrum der wechselseitigen Kontroversen, wie Teltschik rekapituliert, vor allem „vier Themen […], bei denen Moskau seine Interessen nicht genügend berücksichtigt fand: das Raketenabwehrsystem, der A-KSE-Vertrag, die Frage einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine sowie die Zukunft des Kosovo“. Putin sprach diese Fragenkomplexe in München mit deutlichen Worten an, aber es ging ihm nicht, wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow damals darlegte und Teltschik festhält, „um Konfrontation, sondern um einen ‚Alarmruf‘, um eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zu vermeiden“. Was sich anschloss, schildert und bewertet der Autor folgendermaßen: „Das öffentliche Echo auf die Rede Putins war außerordentlich negativ und hält sich zum großen Teil bis heute. Bereits die erste spontane Wortmeldung aus dem Publikum, die – wie so oft – von Josef Joffe kam, Herausgeber der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘, gab den Tenor vor. Er wollte provozieren und fragte den russischen Präsidenten, ob dessen Rede bedeute, dass wir vor einem ‚neuen Kalten Krieg‘ stünden. Diese pauschale und zugespitzte Bewertung bestimmte in der Folge die Diskussion im Saal und am nächsten Morgen teilweise bis in den Wortlaut hinein die Schlagzeilen fast der gesamten Presse. Es war kein Wille spürbar, positive Aussagen des russischen Präsidenten hervorzuheben und zu unterstreichen. Genug Gelegenheit dazu hatte die Rede durchaus gegeben. Und kein Politiker kündigte in der Diskussion die Bereitschaft an, sich über die strittigen Themen zusammensetzen zu wollen und gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Putin hatte sie ja alle angesprochen.“
Dass Putins Münchner Rede im Übrigen auch keine Abkehr von Europa signalisieren sollte, wie westlicherseits ebenfalls interpretiert wurde, zeigte sich im folgenden Jahr, als Putins Nachfolger im Präsidentenamt, Dmitri Medwedew, in Berlin von einem, wie Teltschik unterstreicht, „einheitlichen euro-atlantischen Raum von Vancouver bis Wladiwostok“ sprach und „die Ausarbeitung und [den] Abschluss eines juristisch verbindlichen Vertrages über die europäische Sicherheit“ vorschlug. „‚Vertragsseiten könnten auch die gegenwärtig im euroatlantischen Raum agierenden Organisationen sein‘, sprich EU und NATO.“
Zum Ausgang dieses Vorstoßes schreibt Teltschik: „Ein offizielles Echo aus Washington, Brüssel und aus europäischen Hauptstädten auf diesen […] Vorschlag blieb aus. Vielleicht wurde die Rede nur als persönliche Überlegung Medwedews oder als russischer Versuchsballon gewertet […]. Medwedew galt nicht als außenpolitischer Fachmann.“ Allerdings hatten sich Mutmaßungen in Richtung „persönliche Überlegung“ und „Versuchsballon“ spätestens im November 2009 erledigt, als Moskau den „Entwurf eines Europäischen Sicherheitsvertrages“ unterbreitete. Auch darauf blieben offizielle westliche Reaktionen aus.
Warum das quasi gar nicht anders sein konnte, hatte Katja Gloger, eine Russland-Expertin mit offen russophobem Einschlag, bereits in ihrem 2015 erschienenen Buch „Putins Welt. Das neue Russland und der Westen“ erklärt: „Damit hätte Russland ein faktisches Vetorecht in allen Fragen einer möglichen NATO-Mitgliedschaft postsowjetischer Staaten bekommen.“
Das hätte man verhandeln können.
Wenn aber mit Glogers Bemerkung zugleich das maßgebliche Interesse entscheidender westlicher Kreise im Hinblick auf jene postsowjetischen Staaten benannt worden wäre, die bisher noch nicht der NATO angehören, dann dürften jegliche Ansätze und Vorschläge zu einer Entspannung des Verhältnisses zwischen dem Westen und Moskau einschließlich jener, die Horst Teltschik im „Was tun?“ betitelten letzten Kapitel seines Buches unterbreitet, auch künftig im Sande verlaufen.
Womöglich bis zu einer nächsten Kuba- oder Nachrüstungskrise, für die dann nur zu hoffen bleibt, dass die Beteiligten erneut vor dem Abgrund innehalten und sich eines Besseren besinnen?
Und dann?
Alles von vorn?
Aus langjährigen Erfahrungen als Akteur im sicherheitspolitischen Metier empfiehlt Horst Teltschik übrigens: „Manchmal lohnt es sich, politische Probleme pragmatisch vom Ende her zu denken“ …

Horst Teltschik: Russisches Roulette. Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden, Verlag C.H. Beck, München 2019, 234 Seiten, 16,95 Euro.