22. Jahrgang | Nummer 6 | 18. März 2019

Was allem zugrunde liegt

von Stephan Wohanka

Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.
Immanuel Kant

Schon Marx und Engels wussten: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, […] die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse […] werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht…“ Nicht anders heute: Nach dem Ende des Kalten Krieges sind wir mit einer multipolaren Welt, widersprüchlichen Tendenzen der Globalisierung, großräumigen Migrationsbewegungen und einem Kulturkampf zwischen dem Westen und Teilen der islamischen Gesellschaften sowie in der Europäischen Union mit widerstreitenden Kräften konfrontiert, die entweder auf weitere Europäisierung oder Renationalisierung setzen. Diese politische „Tektonik“ wird grundsätzlich als Ursache für das Aufkommen kruder Nationalismen, politischer Scharlatane und hasserfüllter öffentlicher Kontroversen, deren Wucht, Hitze und Ausmaß bis dato unbekannt waren, verantwortlich gemacht. Was aber liegt all diesen Oberflächenphänomenen zugrunde, was könnte der nicht mehr hintergehbare ideelle Rahmen all dessen sein? Zumindest für unser Land?
Ich denke, es ist die Auseinandersetzung um die hierzulande immer wieder als „flach“ denunzierte Aufklärung und ihrer Wirkmächte auf die tradierten Institutionen. Aufklärung hat grundsätzlich und wesentlich mit der Vernunft des Menschen zu tun. „Selbst denken“, „sich im Denken auf sich selbst stellen“ bezeichnet immer den Rückgriff des Menschen auf die Vernunft. Aufklärung ist der doppelte Prozess der Ablösung des Menschen von der Natur und von seiner vorherigen Geschichte, von den voraufklärerischen Verhältnissen menschlicher Gesellschaften. Als da sind naturwüchsige Herrschaft, undurchschaute und undurchschaubare Autoritäten, die sich in Institutionen und Strukturen wie Kirche, Gottesgnadentum, Feudalstaat, Leibeigenschaft, Ständeordnung, aber auch Nation, Stamm et cetera als festgefügte Ordnung verbergen. Damit ist die Grundintention aller aufklärerischen Bemühungen beschrieben – die Befreiung des Menschen aus dieser seiner Unmündigkeit, einer Unmündigkeit, die nicht grundsätzlich und in jedem Falle selbst verschuldet ist.
Nicht alle Menschen sind in der Lage, willens und fähig, rational und reflektiert aus eigener Ansicht zu handeln. Denn viele brechen unter der Last des Denkens, der Reflexion zusammen; man mutet ihnen zu viel zu. Oder wie Rousseau feststellte: „Der Zustand der Reflexion ist gegen die Natur.“ Instinkte dominieren. Der Gegenpol liegt mit Descartes – „ego cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) – darin, dass die Fähigkeit zum rationalen Handeln und das Potenzial zu Reflexion und Freiheit etwas ist, das allen Menschen gleichermaßen ohne Einschränkung zukommt und zusteht. Die Krise könnte folglich in einem Zuviel an Reflexion, Vernunft liegen. Denn hinzukommt, dass durch die Macht der Reflexion die weiterhin existenten institutionellen Stützen wie Kirche, Nation, Familie in ihrem gesellschaftlichen Rang relativiert, „entformt“ werden. In Gestalt von Parteien, Gewerkschaften, Verbänden, auch eines Rechtssystems, öffentlicher Verkehrsformen, eines Bildungswesens und mehr treten andere Körperschaften und Organe neben sie, substituieren sie in Teilen. Während erstere, „abgelöste“ Einrichtungen eher einen kulturellen Charakter trugen und – soweit sie weiter bestehen – noch tragen, zeichnet letztere eher ein funktionaler Charakter aus.
Drängen sich so nicht Muster auf, die in der näheren deutschen Geistesgeschichte einmal Regie führten? Es bestünde zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“ ein eklatanter Gegensatz. Prägnant gab ihm Thomas Mann in den 1914 veröffentlichten „Gedanken im Kriege“ Ausdruck; dort heißt es: „Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Gräuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptizismus, Auflösung; – Geist.“ Wie es einem Thomas Mann zukommen darf, ist das, auch der Zeit der Niederschrift geschuldet, ein expressiver, ja exaltierter Aufschrei; und gerade dieses Schrille enthüllt die Differenz! Und auch die, von der ein paar Zeilen höher die Rede ist: kulturell versus funktional. Wobei letzteres hier dann auch zivilisatorisch genannt werden kann.
Kultur und Zivilisation also. Es erinnert an die „Leitkultur“-Debatte anfangs der 2000er Jahre. Der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz (ja, das war er schon, ehe er jetzt, Jahre später, als CDU-Vorsitzender-Kandidat scheiterte) erklärte nach erster Kritik an seinem damals gerade geprägten Begriff, eigentlich habe er Verfassung, Demokratie und Menschenrechte gemeint. Er meinte also Zivilisation, nicht (deutsche) Kultur.
Kulturen sind das historisch Gewachsene; und wenn Kulturen „selbst denkend“ werden, entsteht Zivilisation. Denn offenbar tendieren Kulturen in einem gewissen historischen Moment dazu, sich einem übergeordneten Regelwerk zu unterwerfen. Und zwar unter dem Eindruck gewisser Schwächung, ja Zersetzung traditionaler Gesellschaften und der sie (kulturell) tragenden Institutionen; oft eine Leidenserfahrung. Im Falle Deutschlands waren es die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges, die in die Aufklärung und den Völkerrechtsgedanken mündeten. Wie Christian Bommarius schreibt, „stand dahinter die humane Erkenntnis, dass der Krieg total wird, wenn sich die Akteure nicht auf die Rechts-, sondern eine höhere Ordnung berufen, die ihre Durchsetzung mit allen Mitteln verlangt“. Zivilisation ist die „Rechtsordnung“, ist Befriedung und Zähmung der „höheren Ordnung“, sprich der Kultur (und Religion). Zivilisatorisches Denken ist universalistisch; mit Bezügen zum kulturellen Herkunftsraum. Und wo auch Kultur als innere Moralität und Wertvorstellung einschließlich dazugehöriger Kunst universale Größe erlangt, ist sie nicht mehr nur national. Oder anders gesagt: Ein „Clash der Kulturen“ ist – obwohl die These durchaus umstritten ist – denkbar, einer der „Zivilisationen“ schlechterdings nicht (was Kriege nicht ausschließt); wir lassen uns in zivilisierter Manier gegenseitig in Ruhe und respektieren einander.
Die Unterscheidung von Kultur und Zivilisation nimmt die eingangs aufgeworfenen Phänomene der Oberfläche wieder in den Blick. Die Herausforderung der (post)modernen Industrie- und Digitalgesellschaft liegt in den Zumutungen der vernunftgeleiteten Mündigkeit: Diese Art Gesellschaft erzwingt Subjekte, die sich frei begegnen können; sie können sich so nur noch bedingt als Produkte ihrer Geschichte verstehen. Sie sind zu Marktteilnehmern geworden; Effizienz statt Kontemplation gibt den Rhythmus vor. Das ist natürlich nicht ohne Preis zu haben; Nietzsche schreibt: „… das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben … die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer.“ Aber wie wollten oder gar könnten wir hinter diesen Stand zurückfallen? Vergangenheitsbilder würden zu – untauglichen – Zukunftsbildern.
Man kann gegen die Folgen, ja die Dreistigkeit der Vernunft rebellieren. Man kann dagegen – wie es geschieht – ein „Lebensgefühl“ stellen; als eine bewusst (un)politische Haltung. Es kann auch darum zu tun sein, „dem Vergessenen und Verlorenen zu seinem Recht (zu) verhelfen“. Aber: Wer vom antiaufklärerischen Ressentiment nicht reden will, soll vom Kampf gegen aufkeimenden Nationalismus, gegen Xenophobie, gegen Rechtsextremismus und für universelle Werte und Normen schweigen. Denn was meint „antiaufklärerisches Ressentiment“? Ein antizivilisatorisches Ressentiment. Können wir damit auf Dauer leben? Nein!