14. Jahrgang | Nummer 10 | 16. Mai 2011

Pflichtmenschen

von Jörn Schütrumpf

Zu dem, was die Bundeswehr bis heute verweigert, haben sich die deutschen Innenminister 63 Jahre nach dem Enden des Massenmordens aufgerafft: endlich mit dem Lügen Schluss zu machen. 2008 erteilten sie ihrer Polizeihochschule den Auftrag, das Wirken der Polizei im Nationalsozialismus zu erforschen. Herausgekommen sind die Ausstellung „Ordnung und Vernichtung – Die Polizei im NS-Staat“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin sowie ein Katalog unter gleichem Titel.
Das alles ist nicht zuletzt ein politischer Vorgang, ein von der Politik gewollter Vorgang – auch heute in diesem Land noch nicht ganz selbstverständlich. Denn die einfach nur widerlich zu nennenden Winkelzüge der Bundestagsfraktionen von CSU, CDU, FDP und anfangs auch der SPD in der Frage der Rehabilitierung der sogenannten Kriegsverräter (2006 bis 2009) haben einmal mehr deutlich gemacht, wie weit große Teile der Bundespolitiker hinter den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatten der vergangenen Jahrzehnte hinterherhinken: Es sind immer noch Jahrzehnte. (Dazu jüngst: Jan Korte, Dominic Heilig [Hrsg.]: Kriegsverrat. Analysen, Kommentare und Dokumente einer vergangenheitspolitischen Debatte, Karl Dietz Verlag, Berlin 2011, 208 Seiten, 14,90 Euro.)
Neues erfährt der Eingeweihte im Haus Unter den Linden bestenfalls im Detail. Denn wer wissen wollte, konnte es schon längst wissen, spätestens seit Ulrich Herberts Habilitationsschrift über Heydrichs Stellvertreter im Reichssicherheitshauptamt, Werner Best (1992). Üblicherweise stehen Forschungsergebnisse, erzielt in der DDR, egal zu welchem Thema, heute auf dem Index. Hier scheren die Ausstellungsmacher ein wenig aus und erwähnen zumindest Arbeiten aus den Jahren 1957 und 1961 – die trotz ihrer eindeutigen Funktion, im Kalten Krieg gegen die Bundesrepublik der Selbstlegitimation der SED-Führung zu dienen, bis heute verwendbar sind. Hingegen Bernd Gottbergs große und völlig propagandafreie Studie über Höhere SS- und Polizeiführer aus den achtziger Jahren sucht man vergebens.
Von den frühen Jahren der Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik und in die DDR spannen die Ausstellungsmacher den Bogen und lassen dabei eine große Seriosität walten. Die republikfeindliche Haltung des Polizeioffizierkorps wird ebenso nüchtern dargestellt wie die Politik des Berliner Polizeipräsidenten Zörgiebel und der Polizei bei der Provokation am 1. Mai 1929. Damals fanden im Wedding und in Neukölln 33 Zivilisten den Tod, 198 Menschen wurden verletzt. Der Graben zwischen KPD und SPD war abermals mit Blut gefüllt, und die prostalinistischen Kräfte in der KPD konnten sich dank dieser sozialdemokratischen Politik nun endgültig durch- und beide Parteien ihren Marsch ins Ende der deutschen Arbeiterbewegung fortsetzen.
1933, nach der Entlassung der wenigen Rechtsstaatanhänger aus der gleichgeschalteten Polizei, ließen sich die Polizeiapparate widerstandslos in ein vorauseilend mitdenkendes Werkzeug des NS-Regimes umbauen. Kaum ein Verbrechen, zu dem deutsche Polizisten nicht bereit und fähig waren. Es begann mit der Verfolgung der Linken – die Folter zog wieder in Deutschland ein. Anfangs führte die Ordnungspolizei den „Fachleuten“ der Gestapo die Opfer nur zu. Im Osten, bei der Ausrottung der Juden sowie der slawischen Bevölkerung, legten dann Polizisten aller Gattungen selbst Hand an. Und das, obwohl niemand, der sich verweigerte, mit Folgen zu rechnen hatte. Vor Erschießungen von wehrlosen Männern, Frauen und Kindern wurde den einzelnen oft ausdrücklich freigestellt, sich zu beteiligen. Von diesem Angebot – diese Einheiten bestanden in der Regel aus 500 potenziellen Mördern – machten im Durchschnitt acht bis zehn Polizisten Gebrauch.
Dem zweierlei Umgang mit den Massenmördern nach 1945 wird großer Raum gewidmet – auch hier waltet Objektivität. In der DDR – Bruch aller Kontinuität und Verfolgung der einstigen Verfolger. In der sich konstituierenden parlamentarischen Demokratie hingegen deckten sich die Mörder gegenseitig. Das ist gar nicht so einmalig, wie es auf den ersten Blick scheinen will; nichts anderes geschieht bis heute in den ehemaligen lateinamerikanischen Militärdiktaturen – von Argentinien über Brasilien bis Paraguay und Chile, von Mittelamerika ganz zu schweigen. Überall dasselbe Spiel, mit einem Unterschied: die Zahl der Opfer. Und dieser Unterschied ist gewaltig, macht die Verbrechen aber nicht unvergleichbar – was nicht mit Gleichsetzung verwechselt werden darf (und doch immer wieder so gern getan wird).
Die deutschen Mörder waren in ihrer Mehrheit „ganz normale Männer, die nur ihre Pflicht taten“. Über die Motive dieser Mörder in Uniform wurde in den vergangenen Jahrzehnten, sooft Debatten über die nationalsozialistischen Gräuel ausbrachen, immer wieder gemutmaßt, oft auch spekuliert, wenn nicht gar spintisiert. Interessant dabei ist, dass niemand das Konstrukt „Pflicht“ auch nur thematisiert hätte, so sehr ist es positiv belegt. dass die „Pflicht“, also der widerstandslos verinnerlichte Wille des jeweiligen Regimes, nur die Kehrseite des deutschen Duckmäusertums, des revolutionsunfähigen deutschen Untertanen war – darüber hat seit Heinrich Mann in Deutschland niemand ernsthaft mehr zu reden gemocht.
Wenn die „Pflicht“ zur „Normalität“ wird, also an die Stelle eines emanzipierten Selbstbewusstseins eine fremde Identität tritt – sei sie bei einem Staat, sei sie bei einer Nation erborgt –, wird es immer wieder möglich sein: das willenlose Mitmorden. (Von der kleinen Minderheit der Mordwilligen, die bis zum staatsverordneten Massenmorden nur die Ungunst der Umstände vom Morden abgehalten hatte, sei hier abgesehen, denn sie allein hätte die Staatspläne nicht verwirklichen können.)
Der Citoyen, anders als der Untertan, hingegen kennt keine „Pflicht“, er kennt Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen; denn er besitzt eine eigene Identität und muss sich keine erborgen. Wenn er mordet, dann nicht im Staatsauftrag. Die Regierenden Frankreichs haben dieses Dilemma schon früh zu beheben gewusst: 1831, mit der Légion Étrangère – in der lange Zeit nicht zuletzt Deutsche mitmordeten, bei allen Massakern zwischen Vietnam und Algerien.
All das wird am Forum Fridericianum natürlich nicht reflektiert. Die Polizei-Ausstellungsmacher haben nur ihre Pflicht getan, ihren staatlichen Auftrag erfüllt (vielleicht etwas übererfüllt). Was überhaupt nicht zu kritisieren ist, denn dieses Mal hatte der Staat einen wirklich humanistischen Auftrag erteilt. Dieses Land hat wahrlich finsterere Zeit erlebt.
Mit dieser Ausstellung im Pei-Bau wird nun endlich quasi auch staatsoffiziell Abschied von der Mär einer „sauberen Polizei“ genommen – ein Abschied, auf den wir bei der Nachfolgerinstitution, die immer noch am Bild der im wesentlichen „sauber gebliebenen Wehrmacht“ festhält, wohl noch eine Weile zu warten haben werden. Dort wird bis auf weiteres fürderhin gelogen.

„Ordnung und Vernichtung – Die Polizei im NS-Staat.“ Eine Ausstellung der Deutschen Hochschule der Polizei und des Deutschen Historischen Museums, Unter den Linden 2, 10117 Berlin. Bis 31. Juli 2011 täglich 10 bis 18 Uhr. Katalog: Sandstein Verlag Dresden, 320 S., 19,80 Euro