22. Jahrgang | Nummer 2 | 21. Januar 2019

Hegel und Menasse.
Eine Verwechslungstragödie

von Franz Schandl, Wien

Der österreichische Schriftsteller, Dichter, Essayist und politische Akteur Robert Menasse steht mal wieder in der Kritik. Unter anderem, so war den Medien zu entnehmen, habe Menasse behauptet, „dass der erste Kommissionspräsident des EU-Vorläufers Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Walter Hallstein, seine Antrittsrede 1958 auf dem Gelände des früheren NS-Vernichtungslagers Auschwitz gehalten haben soll“.
1958?
Hallstein?
In Auschwitz?
Nur wer von der Geschichte des Kalten Krieges völlig unbeleckt ist, hätte eine solche Behauptung
nicht für Satire halten müssen. 1958 lag Polen hinter dem Eisernen Vorhang und war für westliche Führungskader vom Zuschnitt Hallsteins nicht nur terra incognita, sondern auch zona prohibida.
Allerdings hat Menasse selbst gar keine Satire beabsichtigt, wie seine nachgeschobene Einlassung verdeutlicht:
„Dass die historische Figur Hallstein eine Rede in Auschwitz gehalten haben soll, hat mir im Zuge meiner jahrelangen Recherchen in der Kommission tatsächlich jemand erzählt – diese nicht geprüfte Information habe ich in meinem Roman ,Die Hauptstadt‘ verwendet […].“
Unser Wiener Autor Franz Schandl schrieb uns jetzt: „Warum Menasse gerade in Deutschland als großer Intellektueller, Schriftsteller, gar linker Denker und sonst was gilt, war mir immer ein Rätsel. Es sagt wohl mehr aus über Publikum und Szene als über den großen kommerziellen Inszenator.“
Schandl selbst sah bereits vor über 20 Jahren Anlass, sich kritisch mit der damaligen „Hegelei“ Menasses in dessen Buch „Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens“ auseinanderzusetzen. Der seinerzeitige Beitrag Schandls liefert mehr als nur ein Hintergrundrauschen zur aktuellen Causa Menasse.
Die Schreibweise des Originals wurde weitgehend beibehalten.

Die Redaktion

„Die Arbeit trägt also ihr Scheitern schon in sich“, schreibt Robert Menasse[1].
Dem möchten wir uns in der Folge uneingeschränkt anschließen.

Schon lange bevor Menasse über Hegel geschrieben hatte, schrieb Hegel über Menasse: „Man kann daher Kenntnis von den Behauptungen, Sätzen oder, wenn man will, von den Meinungen der Philosophen besitzen, sich mit den Gründen und Ausführungen solcher Meinungen viel zu tun gemacht haben, und die Hauptsache kann bei all diesen Bemühungen gefehlt haben, nämlich das Verstehen der Sätze.“[2]
Gleich vorweg muß gesagt werden, daß wir diese Broschüre in vielen Passagen nicht verstanden haben. Dies aber nur, weil sie nicht verständlich ist, nicht, weil wir zuwenig Verständnis dafür aufbringen könnten. Das ist auszuschließen. Hegels Sprachduktus dient Menasse als hermetischer Riegel zur Abschottung des Vorgetragenen. Vielleicht ist es aber gerade auch das, was er unter „Schein des Seins im Anschein“ versteht.

Second-Hand-Hegel

Interessant wie bezeichnend ist es natürlich schon, daß Hegel selbst in dem ganzen Band kein einziges Mal zu Wort kommt, daß die Paraphrase das Zitat vollständig ersetzt. Was Menasse also einer Kritik unterzieht, ist dieser Second-Hand-Hegel, wie er in der nunmehr schon altgewordenen neuen Linken so beliebt gewesen war.
Hegel wurde kanonisiert, aber nicht gelesen. Da erging es ihm noch schlimmer als Marx, „den man nicht liest, weil man ihn ja eigentlich immer schon gelesen haben müßte“ (Günther Anders).[3] Was man kennt, sind Versatzstücke aus der Sekundärliteratur, Erzählungen, Gerüchte, kaum das Original. Gehegelt wurde ohne Hegel. Gleich Marx muß der deutsche Philosoph nun für diverse Verunmöglichungen und Verunglückungen der Epigonen herhalten.
Auch wenn das jetzt etwas anmaßend klingen mag, möchten wir doch gerne einmal wissen, inwieweit Menasse wirklich an Hegel gearbeitet hat, oder ob Hegel nur ein gutes Projektionsmittel abgibt, die eigene Vergeistigung zu demonstrieren. Denn Menasse weiß, wie wenig die anderen je Hegel gelesen oder gar konspektiert haben. Hegel kann man so vielerlei unterschieben. In Menasses Hegel ist Hegel jedenfalls nicht wiederzuerkennen.

Ende der Geschichte

Wie viele andere verkündet Menasse das Ende der Geschichte. „Geschichte, der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, war in dem Moment, als sie begriffen, auch zu ihrem Ende gekommen. Die Weltgeschichte hat sich mit dem Sich-Selbst-Finden des Geistes in der gesellschaftlichen Objektivität vollendet.“[4] Was immer das heißen kann, für Menasse heißt es folgendes: „Die bürgerliche Gesellschaft, als die höchste entäußerte und darum dem Geist adäquateste Form der Menschheitsentwicklung, wird zu einem perpetuum mobile des Umschlagens zwischen Ding und Ich. Ein Mensch ist – in einem ununterbrochenen Umschlagen für sich und für alle anderen – zugleich und in untrennbarer Weise beides. Und indem diese Dialektik sich ununterbrochen reproduziert, indem die Menschen der subjektiven Nützlichkeit nachgehend die objektive Nützlichkeit verwirklichen, hält sich das perpetuum mobile des Kapitalismus in realer Selbstbewegung selbst in Gang. […] Es kann keine weitere Geschichte mehr geben, nur noch Zukunft.“[5]
Menasse huldigt dem Tatsachenschein. Da wird nicht mehr gefragt nach Gründen und Begründungen, das subjektive Verhalten der Menschen wird als gegeben angenommen, wenn nicht gar ontologisch vorprogrammiert, so zumindest für alle Zukunft einprogrammiert. Was an der angeführten Subjekt-Objekt-Dialektik spezifisch kapitalistisch ist, würde uns sehr interessieren. Aber vielleicht hat es auch den Kapitalismus schon immer gegeben.
Menasses Überlegungen geraten schnurstracks auf die affirmative Ebene: „Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen? Wohlan! Dies heißt, daß die Geschichte nichts anderes kennt, und daß immer eine Klassengesellschaft auf eine andere folgte, zeigt, daß dies ein Prinzip ist; so ist es und so soll es sein, nichts anderes kann also erwartet, noch weniger errungen werden, wenn immer nur Gleiches wiederkehrt.“[6]
Das Credo könnte eindeutiger nicht sein. Es ist ein krudes und desillusioniertes Bekenntnis zum Vorgefundenen. „Wenn es Nichts ist, das zu Nichts hinführt, dann ist alles Jetzt und jetzt Alles, das noch in seinem besonderen jeweiligen Vergehen im Kontinuum der Zeit Stillstand und Ewigkeit bedeutet. Damit ist die Geschichte erlöst und die Gegenwart von der Geschichte, indem die Geschichte völlig im Jetzt aufgelöst ist. […] Die Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist nicht nur die radikale Negation der teleologischen Vorstellung von Geschichte, sondern von der Geschichte als wie immer geartetem sinnvollen Prozeß überhaupt.“[7]

Das Jetzt

Doch solche Ansichten führen sich schon immanent ad absurdum. Menasse zu Ende gedacht, würde Geschichte nämlich gänzlich obsolet werden. Was für die Zukunft gilt, müßte dann auch für die Vergangenheit gelten. Das Ende der Geschichte ergibt keinen Sinn mehr, wenn es gar keine gegeben hat. Entwicklung wird also zu einem Einerlei in der Zeit. Es gelte sich von allen utopischen Vorstellungen zu befreien, denn: „Eine qualitativ neue Stufe der Geschichte ist nicht mehr möglich“[8].
Und hier trifft sich Menasse auch wieder mit Hegel, aber nicht mit dem dialektischen sondern mit dem konservativen. Dieser schrieb: „Die Einsicht nun, zu der, im Gegensatz jener Ideale, die Philosophie führen soll, ist, daß die wirkliche Welt ist, wie sie sein soll, daß das Gute, die allgemeine göttliche Vernunft auch die Macht ist, sich selbst zu vollbringen.“[9]
Menasse begeht hier den gleichen Fehler, indem er ebenfalls Aktualität und Perspektive der Menschheit in eins setzt. Dieser Gedankenfehler ist so alt wie naheliegend. Jede Jetztzeit versteht sich als Letztzeit. Und das ist auf sinnlicher Ebene so richtig wie auf inhaltlicher Ebene falsch. Solches Denken ist zutiefst konservativ, verabsolutiert die Tradition, die ja nichts anderes ist als „die Trägheitskraft der Geschichte“[10] (Engels).
Mit Marx gilt es ganz umgekehrt zu behaupten, daß die eigentliche Geschichte noch gar nicht begonnen hat, das bisher Gewesene nur als Herausbildung aus dem Tierreich, als Menschwerdung verstanden werden muß. Erst mit der bürgerlichen Gesellschaftsformation „schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“[11].
Der blanke, geschichtslose Idealismus des Robert Menasse treibt gar seltsame Blüten: „Das Design bestimmt das Bewußtsein. Ich sehe eine dorische Säule und ein gotisches Fenster und weiß nur dies: Es ist Jetzt. Und tatsächlich ist dieses Gebäude gerade jetzt errichtet worden.“[12] Wann sonst? Ganz im Ernst!
Nach dem Abschied vom Sozialismus vergöttert da einer das Jetzt. Menasse liefert hier den Unterbau für diverse postmoderne Slogans à la „Future is now“, „Life ist today“, „Tomorrow never comes“ etc. „Die Vollendung der Geschichte ist nun als Erlösung von Geschichte eingelöst“[13], sagt er. Daher wird das Bekenntnis zum konkreten Dasein immer frenetischer. Es nimmt fanatische und religiöse Formen an. Was soll man auch sagen gegen ein Argument, das kumuliert im „Es ist.“[14] Amen!

Klassenkampf

Menasse erkennt zwar, daß Bourgeoisie und Arbeiterklasse unmittelbar zusammenhängen, somit die eine ohne die andere nicht denkbar wäre, eine Herrschaft des Proletariats folglich ein Widerspruch in sich ist[15], löst seine Kritik aber dann doch nicht von der traditionalistischen Sicht, die da lautet: „Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, sie entspringen der Herr-Knecht-Dialektik, ihre Umwälzungen der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, ihr Sinn ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit.“[16]
Wieder einmal einer, der das „Manifest“ gelesen hat, ohne sich auf das „Kapital“ einzulassen. Wahr ist vielmehr: Die Klassenkämpfe in der bürgerlichen Gesellschaft sind Ausdruck des Kapitalverhältnisses und seiner Wertgesetzlichkeit; konstantes wie variables Kapital, Kapitalisten wie Lohnarbeiter sind diesen unterworfen, wenn auch unterschiedlich gesellschaftlich positioniert. Mit Marx muß gegen Marx behauptet werden: Der Klassenkampf ist nicht der Motor der Geschichte, sondern bloß der Transmissionsriemen. Es wäre endlich an der Zeit, nicht sämtlichen Verkürzungen der II., III. und IV. Internationale auf den Leim zu gehen.
Ebenso verkehrt ist es, die bürgerliche Herrschaft als Freiheit der Bürgerlichen zur Herrschaft zu verstehen.[17] Man lese das letzte Menasse-Zitat noch einmal genau. Die Quelle der Geschichte ist für ihn ein reines Produkt der Macht, die ein Oben und ein Unten kennt. Das Herr-Knecht-Verhältnis wird als ontologische Konstante, nicht als historische Variable eingeführt.
Der Massenkonsum ist auch kein Zugeständnis an die Knechte[18]. Er ist nur auf der Realisierungsebene, nicht aber auf der Schaffungsebene Folge der „Kräfteverhältnisse“, objektiv unabdingbar für die Kapitalakkumulation. Die Konsumtion ist ihrer Substanz nach so einerseits die Folge der notwendigen Liquidierung der Produkte, um neue für den Markt produzieren zu können, andererseits Folge der Notwendigkeit der Reproduktion des variablen Kapitals. Das konstante Kapital hat also elementare Interessen daran, denn nur die Realisierung der Produkte am Markt und ihre anschließende Konsumtion ermöglicht Ausbeutung durch Mehrwertabpressung. Das Kapital will alles andere als den Menschen ihre Produkte vorenthalten, im Gegenteil: sie will sie geradezu vollstopfen damit. Der Konsum wird nicht zugestanden, zum Konsum wird gezwungen. Nicht aber darum, um potentiell renitente Massen zu befrieden, sondern weil die Logik der Kapitalherrschaft so ist, unabhängig von den Zuckungen des Klassenkampfs. Ob aus diesem Wollen dann ein Können wird, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Menasse bleibt politizistischen Projektionen verhaftet. Er erhebt sich nirgends über diese. Kapital und Arbeit werden auf der Ebene der Erscheinung diskutiert, eben nicht als Ausdruck des Ganzen, sondern als Gegenüberstellung, über deren Beziehung ein sogenanntes „Kräfteverhältnis“ entscheidet.[19] Menasse denkt den ganzen Marxismus arbeiterbewegt, in Form kautskyanischer Einführungsschulungen.
Das Proletariat wird noch immer ganz messianisch gesehen als „jene Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, die keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist“[20] (S. 15). Menasse denkt den Klassenwiderspruch dualistisch[21], nicht dialektisch, er verweigert sich der Identität des Widerspruchs, die ja schon dadurch gegeben ist, daß sich beide Seiten auf das Gleiche beziehen. Im Klassenkampf wie in der Sozialpartnerschaft (die ja nur eine besondere Variante darstellt) geht es um den Mehrwert und um den Preis der Ware Arbeitskraft, letztendlich also um Fluktuationen des Lohnes um den Wert.

Anschein und Schein

Am wüstesten geht es auf der Ebene der Begriffe zu. Zum Beispiel: „Der Überbau ist also die Gesamtheit der ideologischen gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Menschen auf der Grundlage der sich im materiellen Produktions- und Reproduktionsprozeß herausbildenden materiellen Verhältnisse eingehen. Ideologische Verhältnisse meint, daß es sich hierbei um Formen notwendig falschen Bewußtseins handelt.“[22] Potzblitz! Abgesehen davon, daß der Überbau nie und nimmer auf ideologische Verhältnisse reduziert werden kann, wäre die Quintessenz des Satzes doch die, daß der Überbau nichts anderes ist als notwendig falsches Bewußtsein. Der Überbau wird hier von einer Kategorie des Daseins zu einer Kategorie des (falschen) Denkens.
Doch so ist eben Menasses Philosophie: „Die Produktion des Scheins wird also zur Produktion nun eines doppelten Scheins: nicht nur eines Scheins des Seins, sondern auch eines Scheins des Seins im Anschein (?!? – F.S.), es zu sein. Die einfache Vermitteltheit von Schein und Sein bricht dadurch auseinander.“[23] (S. 30) Und an anderer Stelle: „Der Schein ist damit von einer allgemeinen Erscheinungsform der Wahrheit (?!? – F.S.) zu einer frei-produzierbaren, partikularen, als solche aber verallgemeinerbaren Schein-Wahrheit geworden, die allerdings, weil der Schein gespalten und verdoppelt ist, immer auch ihr Gegenteil ist, ohne aber als solches, als zweifaches Gegenteil zu dem einen wirklich allgemeinen ganzen Schein des Ganzen werden zu können.“[24]
In der Sprache kann man gar vieles verstecken, besonders die Ignoranz durch Arroganz. Das Problem ist also nicht, daß wir das nicht verstehen, sondern daß bei dieser absoluten Verklausulierung nicht mehr gesagt werden kann, wovon Menasse redet: Es ist anscheinend erscheinender Schein, der hier krampfhaft zum Dasein drängt.
Menasses Buch ist nicht dazu da, aus ihm schlau zu werden. Er verrätselt und verklausuliert. Dort, wo er die Sprache Hegels persifliert, geschieht dies nur auf einer rein formalen Tiefebene ohne auch nur annähernd zu dessen inhaltlichen Höhen vorzudringen. Bei Menasse verkommt die Sprache Hegels, er verirrt sich in der Dunkelheit, im Dickicht unbegriffener Begriffe.
Man sollte sich hier nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern – gleich dem Kind in Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ – sagen, daß der Philosoph nackt ist. Daß vieles von dem, was er sagt, nichts sagt. In etwa: „Das Subjekt negiert also die herrschende Allgemeinheit, so wie es sich durch diese negiert fühlt. Aber wenn das Allgemeine auch wirklich Nichts ist, so ist es dieses doch als wirklicher allgemeiner Schein eines Allgemeinen.“[25] Das erkläre mal wer. Oder: „Die Welt, die Historie soll vollendet dastehen in einem vollendeten Schein der Vollendung.“[26] „Das Reine am reinen Tisch, den es macht, ist also das Licht. Nicht mehr Dämmerung, sondern Mittag, die Zeit ohne Schatten, alles reiner Schein.“[27] „Das Glück, daß das Sein noch ist, wird bereichert dadurch, daß es auch Varianten gibt. Niemand widerspricht, daß es so ist. Man teilt eine Meinung, bevor man geteilter Meinung ist.“[28]
Vielleicht ginge auch noch: „Die vollendete Vollendung der Vollendung ist die Vollendung“, „Der reine Tisch ist der vom Tisch gereinigte Tisch. Rein nichts also, reiner Schein ohne Schatten“. Vor allem über die so zufällig hingeworfene, aber doch zentrale Vokabel des Anscheins müßte einiges gesagt werden. Wahrscheinlich folgendes: „Der Anschein ist der Abschein, wenn er aufscheint. So erscheint der Schein in seiner scheinbaren Verdoppelung.“ Oder: „Der Anschein ist die Erscheinung des Scheins im Sein“. Oder noch konkreter: „Der Anschein ist die Erscheinung des Scheins, eine seiner vielen Erscheinungen wie der Abschein, der Aufschein, der Sonnenschein, der Geldschein oder der Fahrschein. Alles nur Schein, der anscheinend erscheint, aber eben durch diese Erscheinung als Sein scheint“. Warum nicht?

Postmodernes Zinken

Postmodernes Denken ist die Konstruktion zusammenhangloser Zusammengehörigkeiten, ein Verwirrspiel, in dem alles geht und alles erlaubt ist. Es kennt nur eine Spielregel: das Zinken. Nur dieses garantiert heute den philosophischen Führerschein.
Das ist wirklich ein „funkelnder Tanz der Kategorien“[29], wie unser Juhu-Rezensent Liessmann schreibt. Wahrlich, die Begriffe hüpfen nur so durch die Gegend, daß es eine Freude ist, keine Assoziation, der sie nicht zugeführt werden könnten. Alles geht, wo nichts mehr einfällt.
Denn das ist das Ziel. Leo Singer hat es uns in „Selige Zeiten, brüchige Welt“ bereits verraten: „Und der zentrale Angelpunkt wäre die Aufhebung der Bildung in der Sittlichkeit, das brutale und diktatorische Insistieren auf dem Irrtum, bis er sich in der Praxis von selbst versteht. Und am Ende die absolute Geistlosigkeit, die allgemeine glückliche Unendlichkeit der Dummheit.“[30] – Tja, ein anderer Robert ahnte es schon voraus, als er einmal meinte, daß „besonders durchgeistigte Männerköpfe manchmal sogar Dummköpfe sind.“[31]
Fragen wir noch einmal nach: Hat Menasse Hegels Logik gelesen? Wenn, dann könnte er mit den dort zentral ausgearbeiteten Begriffen Schein und Wesen, Erscheinung und Sein, Wirklichkeit und Wahrheit, nicht so fuhrwerken, wie er es in seinem Bändchen tut. Einen, das wissen wir ganz sicher, hat er hinsichtlich seiner Überlegungen nicht herangezogen, obwohl er ihn des öfteren anführt: Wladimir Iljitsch Lenin. Dem russischen Revolutionär wird nun schon jahrelang die Lektüre der Phänomenologie unterschoben,[32] die dieser nachweislich nicht gelesen hat. Lenin konspektierte vielmehr die „Logik“, alle seine Bemerkungen in seinen Werken beziehen sich darauf (bzw. auf die „Geschichte der Philosophie“ und die „Philosophie der Geschichte“). In den ganzen vierzig Bänden des russischen Revolutionärs finden wir auch nicht eine einzige Anmerkung über die Phänomenologie.[33]
Und doch hat die plumpe Verwechslung einen Grund, der hier seiner eigenständigen Wichtigkeit wegen zitiert sei. Lenin schrieb: „Man kann das ‚Kapital‘ von Marx und besonders das I. Kapitel nicht vollständig begreifen, ohne die ganze Logik von Hegel durchstudiert und begriffen zu haben. Folglich hat nach einem halben Jahrhundert nicht ein Marxist Marx begriffen.“[34]
Hierbei handelt es sich um eine der allerhellsten Stellen des Bolschewikenführers, wenngleich sie selbst auf ihn und eine ganze Generation von Sozialisten zurückfällt. Lenin hat vollkommen recht. Für die Aktualisierung des Sozialismus bedeutet das: Was in der damaligen historischen Phase noch verzeihlich gewesen sein mag, ist heute unverzeihlich.
Fragen wir Menasse also ein drittes Mal: Hat er Hegel besser rezipiert als Lenin? Oder stammt sein Wissen auch hier nur aus der Gerüchteküche schlechter Sekundärliteratur?

Überanstrengung

Menasses „Entwicklungsroman“ ist also nicht, wie der Buchdeckel verkündet, eine Erzählung, die Hegel fortsetzt, sondern eine, die ihn absetzt und sich von ihm absetzt. Menasse, wir vermerkten es schon in der Besprechung des Romans[35], ist also auf der Flucht, obwohl Hegel und Marx ihn nicht loslassen.
Dieses Buch ist ein anstrengendes Buch. Der Autor hat sich überanstrengt, er hat sich zweifellos einen Bruch gehoben. Schon der große Hegel überforderte sich in seinem Abschluß von Wissen und Geschichte. Menasse macht den gleichen Fehler. Auch er vermeint dort ein objektives Ende zu erkennen, wo doch nur das subjektive Ende seiner Vorstellungskraft erreicht ist.
Hegel wurde von Menasse nicht auf den Kopf gestellt, sondern bloß auf die Zehen getreten. Nach der Lektüre von Menasse hätte Hegel wohl dasselbe geschrieben wie über einen Rezensenten mit dem bezeichnenden Namen Hugo: „Er hätte mir aber ferner die Mühe dieser Gegenrede gänzlich erspart, wenn er sich herabgelassen, bei dem, was ihm für seine Anzeige aus meinem Buche bemerklich vorgekommen, die Stellen selbst abzuschreiben und mich über das, was ich gesagt, reden zu lassen.“[36]

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[1] – Robert Menasse: Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens, Frankfurt am Main 1995, S. 8.

[2] – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, (1817), Werke 18, Frankfurt am Main 1986, S. 17.

[3] – Günther Anders: Die molussische Katakombe, München 1992, S. 59.

[4] – Robert Menasse, Phänomenologie …, S. 11.

[5] – Ebenda, S. 12.

[6] – Ebenda, S. 45.

[7] – Ebenda, S. 46.

[8] – Ebenda, S. 82.

[9] – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1975, S. 83.

[10] – Friedrich Engels: Einleitung zur englischen Ausgabe „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (1892), MEW, Bd. 19, S. 543.

[11] – Karl Marx: Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859), MEW, Bd. 13, S. 9.

[12] – Robert Menasse, Phänomenologie …, S. 83.

[13] – Ebenda, S. 81.

[14] – Ebenda, S. 70.

[15] – Vgl ebenda, S. 22.

[16] – Ebenda, S. 20f.

[17] – Vgl ebenda, S. 38.

[18] – Vgl ebenda, S. 78.

[19] – Vgl ebenda, S. 76.

[20] – Ebenda, S. 15.

[21] – Vgl ebenda, S. 76f.

[22] – Ebenda, S. 17f.

[23] – Ebenda, S. 30.

[24] – Ebenda, S. 33.

[25] – Ebenda, S. 63.

[26] – Ebenda, S. 35.

[27] – Ebenda, S. 39.

[28] – Ebenda, S. 72.

[29] – Konrad Paul Liessmann: Am Anfang war die Kopie, Profil Nr. 8, 20. Februar 1995, S. 78. Die Gedanken Liessmanns, Menasses Besprechungseuphoriker, lassen sich auf ein Wort reduzieren: „Juhu!“, würde völlig reichen. Mehr sagt er nicht, mehr schreibt er nicht, mehr weiß er nicht.

[30] – Robert Menasse, Selige Zeiten, brüchige Welt, Frankfurt am Main 1994, S. 299.

[31] – Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1930), Reinbek bei Hamburg 1987, S. 525.

[32] – Vgl. etwa: Robert Menasse, Selige Zeiten …, S. 209.

[33] – Vgl. vor allem Wladimir I. Lenin, Werke Bd. 14 und 38.

[34] – Wladimir I. Lenin: Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ (1914), Lenin Werke, Bd. 38, S. 170. Genau diese Passage bezieht Menasse fälschlicherweise auf die „Phänomenologie“.

[35] – Vgl. Franz Schandl: Komprechtser Erscheinungen. Zu Robert Menasses „Schubumkehr“; Weg und Ziel, 4/1995, S. 11 ff.

[36] – Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Erwiderung auf die Rezension der Rechtsphilosophie durch Gustav Hugo (1821), Werke 7, Frankfurt am Main 1986, S. 521.