21. Jahrgang | Nummer 25 | 3. Dezember 2018

Manches war doch anders – Dr. Jenninger

von Herbert Bertsch

In seine Wochenend-Ausgabe vom 10./11. November 2018 hatte Neues Deutschland in der Abteilung „Mikroskop“ einen Beitrag von Markus Mohr eingerückt: „Die ‚Jenninger-Rede‘ von 1988 im Gedenktheater der späteren Bundesrepublik“. Darin findet sich dies Zitat, eine Beschreibung des Geschichtsempfindens in der BRD für das, was nach 1945 geschah: „Die rasche Identifizierung mit den westlichen Siegern förderte die Überzeugung, letzten Endes – ebenso wie andere Völker – mißbraucht, ‚besetzt‘ und schließlich befreit worden zu sein.“ Im aktuellen Sprachgebrauch könnte man von der raschen Aneignung westlicher Werte reden, wobei der seinerzeit im Schwange befindliche Anti-Kommunismus, speziell als Anti- Sowjetismus, in der BRD eher nur der Erneuerung bedurfte. Das Zitat stammt von Dr. Philipp Jenninger, seinerzeit Bundestagspräsident, der, gewiss nicht wegen dieses Satzes, sondern ob der Interpretation seiner insgesamt „verunglückten“ Rede als ungenügende Abkehr von Holocaust und Antisemitismus zwei Tage später vom Amt zurücktrat und fortan keine bedeutende politische Rolle spielte. Aber noch einmal wurde er um öffentliche Rede gebeten, hinsichtlich seiner früheren Funktion und inhaltlichen Positionen in der „Deutschlandpolitik“ als Staatsminister – also vergleichbar der langjährigen Betätigung von Herrn Altmaier für Kanzlerin Merkel – bei Kanzler Kohl. Der hatte ihn auch in das Amt des Bundestagspräsidenten beordert und gehievt, um diese Position nicht an seine innerparteilichen Antis zu verlieren. In beiden Ämtern arbeitete ihm zeitweilig der heutige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu. Merke: Sie kannten sich alle, wußten mit- und über einander Bescheid, häufig zum Nachteil. Und Erinnerungen wandeln sich in Abhängigkeit zur politischen Gegenwart.
Anlass für ein zeitweilig erneuertes Interesse an Dr. Jenninger (im Partei-Jargon „Don Philippo“ genannt, was in Unterlagen bei der Gauckbehörde irrigerweise als Tarn- oder Deckname geführt sein könnte), war der so genannte 2. Politbüroprozess um 2000 herum, bei dem neben anderen Herbert Häber angeklagt wurde. Er sollte für Schüsse an der Mauer verantwortlich sein, weil er 1984/85 kurzzeitig Mitglied des Politbüros des ZK der SED war, womit hinreichend als erwiesen galt, er sei damit auch verantwortlicher Mittäter für alles Tun und Lassen an der Grenze; exemplarisch drei Todesfälle an der Mauer in dieser Zeit.
Zahlreiche Zeugen waren aufgeboten. Eine Phalanx von Politikern der BRD, die weitgehend bestätigten, dass Häber „systematische Schritte unternahm, um einen Brückenschlag zwischen Ost und West zu erzielen. […] Nur ein Schritt in diesem Bemühen war auch die Planung und Vorantreibung des ‚Züricher Modells‘ gewesen“. (Marxen/Werle: Strafjustiz und DDR-Unrecht). Und zu diesem Projekt wurden als seinerzeitige Akteure oder Mitwisser Dr. Jenninger, damals wichtigster Mann und Duzfreund von Kanzler Kohl, und für die DDR-Sicht Prof. Dr. Jürgen Nitz gehört. Nitz, nach wechselvoller journalistischer und wissenschaftlicher Karriere über das ND stellvertretender Leiter des Presseamtes des Ministerpräsidenten, nach Parteiausschluss als Maschinenarbeiter im VEB Elektrokohle, nach Rehabilitation zunächst im Deutschen Institut für Zeitgeschichte (DIZ) und nach Gründung des IPW als Professor für Ost-West-Wirtschaft Leiter eines Forschungsbereichs; wie die Direktoren Häber und Schmidt sowie andere Mitarbeiter aus dem IPW auch ständig oder gelegentlich als Unterhändler oder als Bote bei den deutsch-deutschen Beziehungen tätig. Das funktionierte in der Regel geräuschlos, es sei denn, Ergebnisse waren zu vermelden. Und da konnte man auf Benennung von Mittelspersonen auch verzichten.
Überhaupt waren viele Kontakter unterwegs, zumeist auf Gegenseitigkeit, häufig ohne davon zu wissen, dass ihre Partner auch mit anderen Emissären oder Privatpersonen zu tun hatten. Auch in unserem Fall gab es das, und prinzipiell nicht selten auch in Konkurrenz. Zusätzlich kompliziert wurde es nach Einrichtung der diplomatischen Vertretungen. Weiter mit jeweiligen Kontaktpartnern oder nun mit den Diplomaten? So zerfließt, zerfasert ein Gesamtprojekt. In der DDR gab es wenigstens eine zentrale Institution, die flächendeckend Reiseberichte bekam, speicherte; peinlich darauf bedacht zwar keine eigene Politik daraus abzuleiten, aber zu den Personen alles erfasst zu haben, und das über die Staatsgrenze West hinweg: das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Dort landeten auch zahlreiche Vermerke zu „Züricher Modell“ und „Länderspiel“ verschiedener Herkunft an, darunter auch von Quellen der Auslandsaufklärung des eigenen Ministeriums. Dies war den DDR-Beteiligten im eigenen Interesse vermutlich bewusst – oder auch nicht, jedenfalls nicht immer. Bei den hier Handelnden war auch der oberste DDR-Kirchendiplomat Stolpe beiden Seiten als angenehmer Partner dienlich, seitens der DDR vor allem als hochrangiger Bote zum Bundeskanzleramt, also zu Jenninger und seinem Umfeld.
Was war die Konzeption der Bundesregierung für solche Projekte, warum machte sie das? Wobei wir innerstaatliche, innerparteiliche Aspekte wie Medienpräsens und Eitelkeiten gegenüber der Konkurrenz außen vorlassen. Zum Verständnis einer Politik des Miteinander beider deutscher Staaten, mit Zugeständnissen und Finanzhilfen, dennoch zum gegenseitigen Nutzen, muss gleichsam vor der Klammer diese Begründung zur Kenntnis genommen werden: Hans Peter Schwarz, Autor der „politischen Biographie“ von Helmut Kohl, beschreibt zum Beispiel als wesentliche Folge des Honecker-Besuchs in der BRD diese Weisung des Bundeskanzlers zur Politik gegenüber der DDR: „Im Auftrag Helmut Kohls verfolgt Wolfgang Schäuble, Chef des Bundeskanzleramts, den Kurs ‚business as usual‘. Reformen und Verbesserungen werden periodisch angemahnt, aber stets im Rahmen der Grundlinie, daß die DDR auf keinen Fall destabilisiert werden dürfe.“ Zuvor war eben Dr. Jenninger als Staatsminister dafür zuständig. Die öffentliche Erörterung durch daran Beteiligte wäre dabei wenig hilfreich gewesen. Wie weit dafür bisherige Positionen der Bundesrepublik revidiert werden sollten, mag dieser Auszug aus Spiegel 12/1993 belegen: „Auch nachdem Strauß seinen Kreditauftrag bekommen hatte, machte Jenninger heimlich weiter. […] Von politischen Zugeständnissen der DDR war jetzt keine Rede mehr, es sollte nur noch ums Geld gehen. Zufrieden notierte die Staatssicherheit, die andere Seite plane ‚die Abkoppelung des menschlichen Bereichs sowie jeglicher politischer Inhalte‘.“ Für die beteiligten Banken war die staatliche Kreditbürgschaft Sicherheit fürs Geschäft und offene Freigabe dafür, was auch davon nicht geschützte Banken zur Mitwirkung animierte. Die DDR war kreditwürdig.
Bei diesem Sachverhalt fiel es Nitz nicht schwer, wahrheitsgemäß und überzeugt zugunsten Häbers auszusagen, dass und wie dieser bereits seit seiner Zeit als IPW-Direktor bis hin zu seiner Spitzenposition das „Züricher Modell“ beförderte und auch das eigentliche, wesentlich erweiterte Konzept unter der Code-Bezeichnung „Länderspiel“ für eine Art Konföderation der beiden deutschen Staaten im Wirtschafts- und Finanzbereich kalkulierte und mit seinen hochrangigen Partnern erörterte. Im Nachhinein drängt sich zum Verständnis dieser Konzeption als möglicher Vergleich die spätere „Griechenlandrettung“ auf.
Damals aber alles unter dem Schutzschirm der Sowjetunion, die in der DDR eine Garnison von 500.000 Soldaten mit sämtlichen Attributen, auch versiegelten Einsatzplänen, unterhielt. Auch die BRD hatte für eine solche Politik ihrerseits zum Beispiel die Einbindung in die EU zu bedenken, zumal die DDR direkt zunehmend davon profitierte, mittelbar auch die Sowjetunion, was nicht alle EU-Staaten günstig beurteilten. Dazu galt es, die strategischen Ziele und Mittel der NATO ins Verhältnis zum Nutzen zu setzen (Embargo!); also allerlei Fährnisse für das Projekt. In internationaler Sicht war das Ganze für beide Partner ein ziemlich waghalsiges Unternehmen. Erst recht für einige seiner Protagonisten. Gern wird die nicht korrekte Übersetzung und Zuordnung des Gorbatschow-Zitats als Lehre für die DDR benutzt: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben – wer jedoch zu früh kommt, den bestraft die Partei“, und das kann bis zur physischen Vernichtung reichen. Mitunter dient das aber auch noch als Bauernopfer, wie der Fall Häber beweist. Denn nach dessen Sturz wurde trotz retardierender Haltung im Politbüro vom Parteivorsitzenden Honecker dieser Kurs weitergefahren, auf den sich in ihren besten Zeiten Honecker mit Häber einst geeinigt hatten. (Ich verweise auf meinen Blättchen-Beitrag „Kohl-Honecker: ‚Auf Wiederhören‘“. Zum Gesamtkomplex rekurriere ich auf die frühe Schrift von Nitz „Unterhändler zwischen Berlin und Bonn“, Berlin 2001). Demonstrativ für diese Konzeption nach und trotz Häbers Eliminierung war die Visite von Honecker in der BRD, in deren Vorfeld und Nachfolge eigentlich von beiden deutschen Staaten durch eine Vielzahl von Verträgen ein neues Geflecht der Beziehungen entstand, die beispielhaft für das Prinzip der Koexistenz waren.
Darf man das nicht als Erfolg so benennen? Müssen Protagonisten beider Seiten in Sack und Asche gehen, weil sie seinerzeit Vorstellungen hatten und zu realisieren trachteten, wobei auch sie den Zusammenbruch der Sowjetunion mit ihren Folgen für die Deutschen nicht auf der Agenda hatten? Nun haben Gespräche, mehr oder minder auch politische Handlungen die Eigenheit, wenngleich eine Angelegenheit zumindest zweiseitig zu sein. So konnte es dazu kommen, dass nach dem Beitritt der ehemaligen DDR der Auftrag zu deren Delegitimierung bewirkte, dass auch bisherige Partner der DDR in der Bundesrepublik sich zu rechtfertigen genötigt sahen, statt den Kritikern damit zu begegnen, was denn die Alternative gewesen wäre. Auch Dr. Jenninger bediente diesen Zeitgeist. Wie andere auch, konnte er sich als Zeuge in Untersuchungsausschüssen eigentlich an nichts erinnern, Papiere zur Beihilfe konnten nicht herangezogen werden, weil es keine gab. Spiegel 12/1993: „An deutsch-deutsche Verhandlungen nach dem Regierungswechsel 1982 konnte sich der ehemalige Staatsminister in Helmut Kohls Kanzleramt nur vage erinnern. Enge Verhandlungspartner waren jetzt flüchtige Bekanntschaften. Als die genervten Abgeordneten wenigstens Akten sehen wollten, winkte Jenninger ab: ‚Dafür hat man den Kopf.‘ Er sei vielleicht ein Bürokrat, aber sicher ‚kein Aktenmensch‘. […] Geheimakten des Untersuchungsausschusses zeichnen ebenso wie die Aussagen von Beteiligten ein ganz anderes Bild. Selbst nach 1984, also in seiner Zeit als Bundestagspräsident, betrieb Jenninger in einer Art Geheimdiplomatie Kontakte zur DDR-Führung – oft jenseits der offiziellen Bonner Regierungslinie.“
Doch nach dem Ende der DDR so klein in der Selbstbehauptung – warum eigentlich? DDR-Unterhändler oder Emissäre hatten zahlreiche Gesprächspartner in der BRD oder empfingen sie, zum Beispiel Kanzler Schröder nach der Aufwartung beim Staatsratsvorsitzenden, zum informellen Gespräch im IPW; sie waren gewiss nicht, schon gar nicht immer „Spitze“; aber hochrangige Gegenüber als Lichtgestalten begegneten ihnen eher selten. Dr. Jenninger wars nicht.